Vortrag von Victor Chu
in Heidelberg, Stuttgart und Berlin 2011
Vielleicht erinnern Sie sich: Vor gar nicht so langer Zeit hieß es in der Presse immer wieder: „Es ist 5 vor 12. Wir müssen heute handeln, damit die Welt nicht untergeht.“
Seit einiger Zeit hört man solche Ausrufe kaum mehr. Auf den letzten Welt-Klimakonferenzen hieß es nur noch: Nun gelte es zu verhindern, dass die Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts mehr als zwei Grad steige. Es geht also nicht mehr um die Verhinderung des Klimawandels. Es geht nur noch um die Begrenzung des Schadens.
(Das Gleiche beobachten wir auch in der Finanzkrise: Entgegen aller Beteuerungen der Politik, das ganze Finanzsystem zu reformieren, begnügte man sich damit, einige Stützpfeiler einzuziehen, damit das marode System nicht wieder zusammenkracht. Der nächste Crash kommt bestimmt.)
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima ist klar geworden, dass es nicht mehr darum geht, etwas Schlimmes zu verhindern. Die Katastrophe ist schon da. Wir stehen bereits mitten drin. Das, was wir befürchtet haben, ist eingetreten. Wir stehen nicht vor der Katastrophe, sondern mitten drin. Es macht einen großen Unterschied, ob wir vor einer Katastrophe stehen, die wir verhindern können, oder ob diese schon eingetreten ist.
Das, was das japanische Volk heute durchmacht, ist exemplarisch für die ganze Welt. Japan hat als eines der reichsten und höchsttechnisierten Länder es nicht geschafft, seine Atomanlagen so zu schützen, dass eine Kernschmelze stattfindet. Nun werden weite Gebiete Japans radioaktiv verseucht. Die Reaktorenbetreiber und die Regierung sind außerstande, den Schaden zu begrenzen. Die Bevölkerung ist – nach den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki – wieder einmal der tödlichen radioaktiven Verstrahlung ausgeliefert.
Natürlich hat man die Bevölkerung im Umkreis des Reaktors evakuiert. Kann man aber eine Millionenstadt wie Tokio evakuieren? Wohin mit den 35 Millionen Menschen? Was ist, wenn das ganze Inselreich radioaktiv verseucht wird? Kann man ein ganzes Volk evakuieren? Und noch weiter: Kann man die radioaktiven Wolken und die radioaktiven Meeresströmungen vor den Landesgrenzen aufhalten?
Das, was das japanische Volk heute durchmacht, ist symptomatisch für die ganze Welt: Die Katastrophe ist schon da. Wir stehen mitten drin. In einer radioaktiv verseuchten Welt wird es keinen Ort mehr geben, zu dem wir flüchten können. Wir werden nichts essen und trinken können, was nicht strahlenbelastet ist. Schon der Klimawandel und der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels werden dazu führen, dass Zehntausende ihre Heimat verlieren und evakuiert werden müssen. Hier in Südwestdeutschland kann man sich glücklich schätzen, dass unser Land höher liegt und nicht besonders von Erdbeben bedroht ist. Aber sind wir auch bereit, Hochwasserflüchtlinge nicht nur aus dem Ausland, sondern auch aus unseren eigenen Küstenregionen aufzunehmen? Vor dem Anstieg des Meeresspiegels kann man sich noch in höher gelegenen Regionen retten, vor der radioaktiven Wolke gibt es keine Rückzugsmöglichkeit mehr.
Dies sind nicht abstrakte Horrorszenarien, sondern voraussehbare Realität.
Wir sind es gewohnt, uns vorzustellen, dass uns Katastrophen mit einem Knall treffen – wie eine Bombe, die einschlägt, oder ein Autounfall, der in Sekundenschnelle passiert und dann vorbei ist. Die globale Katastrophe, in der wir heute stehen, ist aber ein schleichender Prozess.
Sie ähnelt mehr einer chronischen Krankheit denn einer akuten Erkrankung. Wir fühlen uns schwächer, sind empfindlicher gegenüber Störungen unseres Wohlbefindens. Wie bei einer AIDS-Erkrankung ist unser Immunsystem so weit geschwächt, dass wir bei einer banalen Ansteckung akut und lebensgefährlich krank werden können. Dann springt der vorher schleichende Prozess in die Akutphase. Wir sind dann überrascht – wie bei der Weltfinanzkrise vor zwei Jahren, wie bei der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko vor einem Jahr, wie bei der atomaren Katastrophe heute. Wir reagieren dann hektisch, kopflos, suchen nach einem Schuldigen, bitten die Opfer um Vergebung und geloben Besserung.
Aber kaum, dass die Folgen der Katastrophe abgeebbt sind, kehren wir zur Tagesordnung zurück und leben so weiter, als sei nichts geschehen. Es sei nur ein bedauerlicher Zwischenfall gewesen, versuchen wir unser Gewissen zu beruhigen. Wir machen weiter wie bisher. Wir gewöhnen uns an das Schreckliche.
AIDS ist eine gute Metapher für den Zustand der Erde, in dem wir uns heute befinden. Mit derselben Gleichgültigkeit, mit der wir Tausende Verkehrstote durch das Auto akzeptieren, nehmen wir es hin, dass täglich hunderte Pflanzen- und Tierarten unwiederbringlich verschwinden, dass sich die globalen Lebensbedingungen für Mensch und Tier verschlechtern. Es ist nicht, dass wir es nicht wissen. Es gelingt uns nur, die schlimmen Tatsachen zu verdrängen.
Unsere Fähigkeit zu verdrängen ist enorm. Verdrängung ist eigentlich eine sinnvolle Reaktion: Sie schützt uns davor, von unerträglichen Emotionen und Erkenntnissen überflutet zu werden. Verdrängung macht uns aber langfristig krank, wenn wir Realitäten verleugnen, wenn wir das Unangenehme aus unserem Leben abspalten. Wir flüchten uns dann in Illusionen, und Illusionen sind gefährlich. Denn wir stehen dann nicht mehr mit beiden Füßen auf dem Boden, sondern befinden uns in einem Schwebezustand.
Die heute verbreiteste Art der Realitätsflucht ist die Sucht. Ich meine damit nicht nur die als pathologisch diagnostizierten Süchte wie Alkohol-, Nikotin- und Drogenabhängigkeit. Ich meine vielmehr die gesellschaftlichen Süchte: den blinden Glauben an den technischen Fortschritt und an das wirtschaftliche Wachstum. Individuell äußert sich dies im Wettlauf nach Geld, Macht und Erfolg, der häufig schon von Kindesbeinen an beginnt und sich später in der Arbeitssucht und Konsumsucht fortsetzt, bis hin zu Jugend- und Schönheitswahn.
Im Chinesischen sagt man, es gebe vier Realitäten, denen man nicht entfliehen kann: „das Geboren werden, das Altern, das Krankwerden, das Sterben“. Der blinde Glaube an Fortschritt und Wachstum, an Macht und Erfolg, an Jugend und Schönheit negiert die schlichte Tatsache, dass wir altern und sterben werden. Wir verleugnen die Tatsache, dass wir im Laufe unseres Lebens immer wieder hilflos und ohnmächtig den Umständen ausgeliefert sind, dass wir persönliche oder berufliche Misserfolge erleiden, ja dass wir selbst in unseren besten Bemühungen scheitern. Das reale Leben spielt sich innerhalb einer breiten Skala zwischen Null und Hundert ab. Wir sind nicht nur gut, wir sind auch böse. Und oft befinden wir uns zwischendrin. Wir sind nicht immer erfolgreich, wir scheitern auch. Und die meiste Zeit ist unsere Leistung eher durchschnittlich.
Dies anzuerkennen bedeutet nicht, dass wir nichts mehr wert sind. Dies anzuerkennen macht uns nur bescheidener, demütiger und menschlicher. Unsere Grenzen anerkennen macht uns erst fähig, das zu tun, was möglich und was nötig ist.
Das Elend, das wir in unserem Größenwahn angestiftet haben, ist groß. Die Auswirkungen der Klimakatastrophe, die durch unseren zügellosen Energieverbrauch verursacht wird, werden die Lebensbedingungen auf der Erde für lange Zeit verschlechtern. Die strahlende Radioaktivität, die wir mit der Atomtechnik der Nachwelt hinterlassen, wird noch in Tausenden von Jahren die Gesundheit und das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen bedrohen. Dennoch: „Eine Reise von Zehntausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt“, sagt ein anderes chinesisches Sprichwort. Beginnen wir also mit den ersten Schritten.
Wie müssen wir uns ändern, um die heute als notwendig erachteten Schritte zu tun?
Wenn es unsere Verdrängung und unsere Süchte sind, die uns daran hindern, die Realität zu erkennen, müssen wir sie aufheben. Das ist leichter gesagt als getan. Denn wir haben gesehen, dass Verdrängung und Sucht eine wichtige Schutzfunktion erfüllen: Sie schützen uns vor unerträglichen Emotionen und Erkenntnissen.
Deshalb müssen wir zunächst unsere inneren Kräfte aufbauen, damit wir stark genug sind, um unangenehmen bis unerträglichen Tatsachen ins Gesicht zu schauen. Die heutige Psychologie spricht von Resilienz – der inneren Fähigkeit, Schwierigkeiten unerschrocken zu begegnen, mit Extrembelastungen fertig zu werden, Traumata und Lebenskrisen gut zu bewältigen.
Die Resilienzforschung hat gezeigt: Der wichtigste Faktor für den Aufbau innerer Stärke ist eine gute soziale Bindung: Eltern, Großeltern und Geschwister, die das Leben aktiv bewältigen, sind ein gutes Vorbild für Kinder, ebenso wie aufmerksame Erzieher, Lehrer und Mentoren. Die Einbettung in einer sozialen Gemeinschaft, die gemeinsame Werte miteinander teilt und lebt, stärkt das Selbstvertrauen und den Glauben ihrer Mitglieder an sich selbst. Die gemeinsame Bewältigung von Krisen gibt dem Einzelnen die Zuversicht, auch künftigen Herausforderungen gewachsen zu sein.
Ebenso hilfreich ist die Fähigkeit, die eigenen Impulse zu kontrollieren und die Befriedigung spontaner Bedürfnisse zugunsten höherer Ziele aufzuschieben. Eine realistische Selbsteinschätzung – das Wissen um unsere Stärken und unsere Schwächen – schützt uns vor einer Überschätzung unserer Möglichkeiten ebenso wie vor vorzeitiger Resignation. Eine klare Wahrnehmung der Umwelt gibt uns die Möglichkeit, unsere Chancen realistisch einzuschätzen. Echtes Interesse an anderen Menschen und die Fähigkeit, in sie einzufühlen und mit ihnen zu kommunizieren vermindert soziale Spannungen und Aggressionen und erleichtert die Lösung von Konflikten mit unseren Gegnern.
Nicht zuletzt kommt es beim Aufbau der Resilienz auf unsere inneren Überzeugungen an: Religiöser und spiritueller Rückhalt kann unserem Leben Sinn und Richtung geben, Lebensfreude und Lebenslust können uns über Rückschläge hinweghelfen.
Was bedeuten diese allgemeinen Ergebnisse der Resilienzforschung für unsere Suche nach Lösungen aus der globalen Krise?
Wir sollten unsere Verantwortung für die heutige Krise erkennen und wahrnehmen. Diese entspringt aus folgenden Quellen:
Wir haben in unserer menschlichen Neugier und unserem Wissensdurst die Wissenschaft zum Fetisch gemacht. Die Kernenergie ist zwar wissenschaftlich erforschbar und technisch nutzbar. Wir sind jedoch außerstande, sie zu beherrschen. Selbst wenn das Restrisiko theoretisch noch so klein ist, wenn ein atomarer Unfall tatsächlich geschieht, hat er unabsehbare Folgen. Dies bedeutet, dass wir auf ihre militärische und friedliche Nutzung verzichten müssen.
Dieser Schritt wird uns sehr schwer fallen. Denn noch nie war die Menschheit bereit, auf ein Werkzeug zu verzichten, das ihr soviel Macht verleiht. Ein solcher Verzicht setzt eine Begrenzung unseres Größenwahns durch Vernunft und Einsicht voraus. Wir müssen erkennen, das wir mit der Kernenergie wie Zauberlehrlinge umgegangen sind. Der Verzicht auf diese unbeherrschbare und folgenschwere Technik verlangt auch die Unterordnung von Einzelinteressen (auch denen von mächtigen Konzernen und Staaten) unter das Interesse aller.
Die Durchsetzung von Einzelinteressen stellt aber einen Grundpfeiler unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems dar. Was geht uns das Elend in der Dritten Welt an, so lange es uns gut geht? Diese egozentristische Haltung deckt sich mit dem Profitstreben machtvoller Konzerne, vor denen selbst die Politik klein beigibt.
Wir vergessen dabei, dass unsere Welt heute ein globales Dorf geworden ist. Alles, was wir heute säen, wird irgendwann zu uns zurückkehren. Die radioaktiven Spaltprodukte, die wir heute zur Stromgewinnung produzieren, werden uns irgendwann unausweichlich heimsuchen. Der globale Klimawandel wird unsere Existenz und unsere Kultur bedrohen. Wir sind heute Täter und Opfer der globalen Katastrophe in einer Person.
Größer, höher, schneller – das ist die Devise, nach der wir heute als Individuen und als Kollektiv funktionieren. Sie bildet den Kern unserer gesellschaftlichen Sucht. Eine andere Weltordnung, in der es um Solidarität, Nachhaltigkeit und Gegenseitigkeit geht, kann nicht entstehen, solange wir diesem Fetisch nachlaufen. Die Erde verfügt nur über begrenzte Ressourcen, mit denen eine immer größer werdende Menschheit achtsam und vorausschauend umzugehen hat.
Wir müssen lernen, dass wir an einen Punkt in unserer Entwicklung angelangt sind, in der die Güte unseres Lebens nicht durch noch mehr Güter (also der Zunahme der Quantität unserer Produkte), sondern nur durch eine qualitative Veränderung unseres Bewusstseins gesteigert werden kann: Weniger ist mehr, genug ist genug, mehr als satt können wir uns nicht essen.
Wir sollten unsere Verantwortung für die heutige Krise erkennen und wahrnehmen. Diese entspringt aus folgenden Quellen:
Wenn wir unfähig sind, uns das Undenkbare vorzustellen, stellt sich automatisch ein Denkverbot ein: das Undenkbare wird tabuisiert.
Wenn die stärksten radioaktiven Abfälle eine Halbwertszeit von 500.000 Jahren haben, sind 20.000 Menschengenerationen notwendig, die über unsere Endlager wachen müssen, bis die Hälfte ihrer tödlichen Strahlung abgeklungen ist. 20.000 Generationen? Es sind gerade 5000 Jahre vergangen, seit die uns bekannte menschliche Kultur existiert. Das sind gerade 200 Generationen. Woher nehmen wir das Recht, von 20.000 künftigen Generationen zu verlangen, dass sie unseren radioaktiven Müll hüten, den wir in den letzten 50 Jahren, das heißt binnen zwei Generation erzeugt haben? Ist das nicht verrückt?
Wir müssen also das Undenkbare denken, damit wir das Wahnwitzige erkennen, das in dem sorglosen Jonglieren mit der Kernenergie steckt.
Das, was verharmlosend „die friedliche Nutzung der Kernenergie“ genannt wird, ist also kein Spielzeug, mit dem wir hantieren. Selbst wenn es bei den weltweit 438 Kernkraftwerken nie wieder ein nuklearer Super-GAU stattfände, produzieren wir so viel radioaktiven Abfall, dass die Erde auf Hunderttausend Jahre lang verseucht sein wird. Nicht nur das gewaltige Atomwaffenarsenal, das während des Kalten Krieges aufgebaut wurde, sondern auch die friedliche Nutzung der Kernenergie bedroht die Grundlage des Lebens auf der Erde. Wir müssen uns unserer Zerstörungsmacht bewusst machen.
Gleichzeitig sollten wir uns unserer Verletzlichkeit bewusst werden. Wir sind der Radioaktivität wehrlos ausgeliefert, sobald sie austritt. Nicht nur das Risiko von Krebserkrankungen, auch genetische Veränderungen bedrohen unsere Gesundheit und die Gesundheit unserer Kinder und Nachkommen. Wir werden mit Generationen von kranken, behinderten und missgebildeten Kindern rechnen müssen. Dagegen wird das Contergan-Desaster wie ein harmloser Unfall erscheinen.
Der tödliche Kampf der „Liquidatoren“ in Tschernobyl, der verzweifelte Kampf der japanischen Arbeiter und Feuerwehrleute in Fukushima zeigt uns, wie ohnmächtig wir angesichts eines außer Kontrolle geratenen Kernkraftwerkes sind. Wie Zauberlehrlinge haben wir mit dem Feuer gespielt, bis wir eines entfesselt haben, das uns selbst verschlingt. Unsere Allmachtsphantasie (von der Beherrschbarkeit der Nukleartechnik) schlägt dann in Ohnmacht um.
Es ist tatsächlich ein grotesk wirkender Gegensatz: das Bild unserer mächtigen, kühlturmbewehrten Atommeiler gegenüber dem Bild rauchender Reaktorruinen in Tschernobyl und Fukushima. Es ist heute kein Krieg mehr notwendig, um ganze Landstriche unbewohnbar zu machen. Es genügt ein Atomunfall.
Die schier unglaubliche Zerstörungskraft der Kernenergie macht uns verständlicherweise Angst. Todesangst. Und das ist gut so. Wir müssen uns der tödlichen Gefahr bewusst werden, um die von Industrie und Politik vorgegaukelte Harmlosigkeit der Atomkraft als dreiste Lüge zu enttarnen. Angst ist notwendig, um genügend Widerstandskraft gegen die gewaltige Macht der Atomlobby zu mobilisieren. Wir schützen damit nicht nur uns und unsere Nachkommen, sondern auch die Natur. Der Kampf für die Abschaffung der Atomenergie ist auch ein wichtiger Beitrag zum Natur- und Umweltschutz. Er ist genauso wichtig wie das Bemühen um Frieden in der Welt.
Wir sollten unsere Verantwortung für die heutige Krise erkennen und wahrnehmen. Diese entspringt aus folgenden Quellen:
Angst lähmt. Wenn wir angesichts der Horrorbilder vor dem Fernseher der Lähmung anheimfallen und erstarren, wächst die Panik in uns. Wir werden handlungsunfähig. Stattdessen sollten wir uns lieber überlegen, was wir in dieser Situation konkret tun können. Positive Aggression überwindet die Angst. Aus der Biologie wissen wir, dass Aggression ein natürlicher Reflex ist, um einen Angreifer in die Flucht zu jagen. Die andere Reaktion auf eine Bedrohung ist Flucht, die ebenso sinnvoll ist, wenn die Gefahr zu groß ist. Sowohl Aggression als auch Flucht lässt uns aus Lähmung und Passivität treten und in die Aktivität gehen.
Als ich am 11. März von der Reaktorkatastrophe in Fukushima erfuhr, entschloss ich mich spontan, zur Menschenkette zwischen dem AKW in Neckarwestheim und Stuttgart zu gehen, die zufällig für den nächsten Tag geplant war. Ich traf dort viele alte Freunde und Bekannte, darunter Menschen, mit denen ich bereits in den achtziger Jahren in Ulm gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen demonstriert habe. Die Menschenkette war eine sehr ermutigende Aktion. Zusammenzustehen und sich an den Händen zu fassen machte unsere Solidarität und unsere Entschlossenheit körperlich spürbar. Ich kehrte mit Freude und Zuversicht zurück. Zwei Wochen später war Landtagswahl in Baden-Württemberg. Grünen und SPD gelangen es in Baden-Württemberg, eine 58 Jahre währende Regierung der CDU abzulösen. Bei dieser historischen Wahl hat die Mehrzahl der Wähler ein entschiedenes Nein zur atomfreundlichen Politik der Landesregierung abgegeben. Unter dem Eindruck dieses eindeutigen Wählervotums hat die Bundesregierung begonnen, ihre bisherige Energiepolitik zu überdenken. Auch hier zeigt sich, dass wir Bürger sehr wohl die Möglichkeit haben, auf die Politik einzuwirken.
Wir können uns daher unserer Eigenmacht bewusst werden. Kernenergie ist eine von den Industrieländern hervorgebrachte Hochtechnologie. Wir sind die Produzenten und Konsumenten der Kernenergie. Als Konsumenten haben wir die Möglichkeit, uns für andere, umweltfreundlichere Formen der Energie zu entscheiden. Als Wähler können wir unseren Willen für einen Kurswechsel in der Energiepolitik kundtun. Und als mündige Bürger können wir uns gegen politische Willkür wehren. Wir haben es vor 20 Jahren beim Fall der Mauer erlebt, wir erleben es heute in der arabischen Welt, wie machtvoll Bürgerbewegungen sein können. Daraus können wir Mut schöpfen.
Beim Einstehen zu unserer Eigenmacht sind wir nicht allein. Als Chinese hegte ich schon immer einen untergründigen Groll gegen die Japaner. Obwohl ich erst nach dem Krieg geboren bin, empfinde ich eine tiefe Feindschaft zwischen unseren beiden Völkern. Meine Eltern haben unter der japanischen Okkupation vor und während des Zweiten Weltkrieges gelitten. Eine Tante ist im Krieg umgekommen. Dennoch: als ich die ersten Nachrichten vom Tsunami in Japan hörte, wich der ganze Groll auf die Japaner von mir. Und als ich später von der atomaren Katastrophe erfuhr, fühlte ich: Wir sind eine Familie, wir gehören zueinander, wie Brüder und Schwestern.
Solidarität und Mitgefühl sind die stärksten Kräfte, die unsere Resilienz, unseren Widerstand gegen die existenziellen Bedrohungen von heute aufbauen können. So wie es ein internationales Kartell für die Durchsetzung von Kernkraft gibt, so kann ein Nation übergreifendes Bündnis von Kernkraftgegnern entstehen.
So notwendig unser entschiedenes Handeln ist, so wichtig ist es gleichzeitig, nicht nur zu handeln, sondern auch uns zu besinnen.
Fast jeder von uns ist sich ja der Gefährlichkeit der Kernenergie bewusst. Warum handeln wir aber nicht danach? Dies liegt an dem oben beschriebenen Denkverbot. Sobald es zu kompliziert wird, schalten die meisten von uns ab. Denken ist eine Anstrengung, wenn wir uns mit einem komplexen Sachverhalt konfrontiert sehen, und die Welt ist heute äußerst kompliziert. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit lieber auf Belangloses, Unproblematischeres. Wir suchen Zerstreuung in angenehmen Aktivitäten. Wir gleiten in suchtartige Betäubung ab: Fernsehen, Internet, Chatten, Twittern. Ich habe schon oben die grassierende Suchttendenz in unserer Gesellschaft erwähnt. Nicht zufällig werden wir von der Konsum- und Unterhaltungsindustrie zum rastlosen Konsumieren verführt. Auf diese Weise werden wir abgelenkt vom genauen Nachschauen, vom klaren Nachdenken, vom unbequemen Nachfragen.
Suchtkranke verlieren die Fähigkeit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ihre Welt verengt sich auf das Suchtmittel, sei es der Alkohol, sei es das Internet, seien es Autos. Daher ist es notwendig, uns zu entwöhnen. Die Abstinenz verlangt Selbstdisziplin. Sie verlangt Verzicht auf Angenehmes. Sie fordert Einsicht. Genug ist genug. Wenn wir mehr als genug zu uns nehmen, vergiften wir uns. Zuviel des Guten wirkt wie Gift.
Wenn wir bereit sind, uns zu entgiften, wird unser Blick klarer, unser Verstand schärfer. Dann können wir endlich zuende denken. Die Destruktivität der individuellen wie der kollektiven Sucht wahrnehmen. Und daraus die Konsequenz ziehen.
Dann ist nicht mehr materielles Wachstum das Wichtigste. Wichtiger wird unsere innere Entwicklung, unser geistiges und spirituelles Wachstum. In der spirituellen Sphäre sind alle Wesen gleich – Arm und Reich, Mensch und Tier. Hier ist alles ist mit allem verbunden. Wir finden uns in einem Netz von unsichtbaren Bindungen und Verbindungen, einem Netz, in dem wir uns schon immer befunden haben, das wir aber im Laufe unserer kulturellen Entwicklung aus dem Blick verloren haben.
Wir sind als Teil der Natur von unserer eigenen Natur entfremdet. Wir haben uns zum Herrscher ausgerufen, wo wir eigentlich Mit-Geschöpfe sind. Unser Leben wurde uns nur gegeben, wir haben uns nicht selbst erschaffen. Wir sind dem Kreislauf von Geburt und Tod unterworfen wie alle Geschöpfe dieser Erde.
Diese Erkenntnis kann uns demütiger werden lassen. Sie führt uns zurück zu unserem Ursprung. Wir können auf diese Weise unseren Respekt und unsere Ehrfurcht vor der Schöpfung zurückgewinnen. Und damit auch unseren Selbstrespekt. Denn dieser ist, in dem Prozess der Selbstverherrlichung, uns unbemerkt verloren gegangen. Wenn wir ehrlich sind, haben wir Angst vor uns selbst. Wir misstrauen uns selbst. Bisweilen hassen wir uns selbst für das, was wir sind und für das, was wir tun. Selbstliebe ist nicht Narzissmus, ist nicht Selbstverliebtheit. Selbstliebe ist immer eingebettet in der Liebe für unsere Mitmenschen und unsere Umwelt.
Wuwei bedeutet auf Chinesisch wörtlich „keine Absicht“, absichtsloses Betrachten, wunschloses Sich Besinnen. Mein Freund, heute berentet, setzt sich auf seinen Spaziergängen gerne auf eine Wiese oder an den Wegrand und schaut um sich. Seine erste Arbeit war die eines Gefängnisseelsorgers. Er begann seine Arbeit in der großen Anstalt, indem er sich in den ersten Wochen einfach in den Gang des Gefängnisses setzte und beobachtete, was alles um ihn herum geschah. Er hat nicht damit angefangen, emsig Sozialarbeit oder Seelsorge zu betreiben. Er hat nur geschaut, geatmet und gefühlt. Das ist Wuwei.
Auch angesichts der Katastrophe von Fukushima ist es wichtig, neben der Aufnahme aktueller Meldungen und der hektischen Suche nach Lösungen uns immer wieder hinzusetzen und in Ruhe uns zu besinnen. Nur wenn wir die innere Fassung bewahren, unsere Gefühle und Gedanken ordnen und uns mit dem Größeren verbinden, kommen wir zur Besinnung. Ich denke diese Tage oft an das Bild, das einst der Bewusstseinsforscher John Lilly geprägt hat: „Das Zentrum des Zyklons“: im Zentrum des Zyklons ist Ruhe. Selbst wenn um uns herum der Sturm wütet, können wir in unserem Zentrum Ruhe finden. Ja, je mehr es draußen tobt, desto wichtiger ist es, unsere Mitte zu spüren und aus unserer Mitte zu handeln.
Alle fernöstlichen Übungswege, Dao, „der Weg“ genannt, haben dies zum Ziel: Ruhe inmitten des Sturms bewahren, zentriert und ruhend in uns bleiben, was auch immer um uns geschieht. Dies verlangt viel Vertrauen, Vertrauen in uns, in das Leben, in das Schicksal, in das Nichtwissen.
Einem Bauern ist ein herrenloses Pferd zugelaufen. Die Nachbarn eilen herbei, um ihm zu gratulieren. Er antwortet: „Wartet ab!“ Der Sohn des Bauern lernt, auf dem Pferd zu reiten. Er wird abgeworfen und bricht sich ein Bein. Die Nachbarn bedauern den Bauern. Er antwortet: „Wer weiß, wofür das gut ist.“ Der Kaiser schickt seine Schergen aus, um Soldaten für seinen neuen Krieg zu rekrutieren. Der Sohn des Bauern wird verschont, weil er hinkt. Die Nachbarn kommen wieder, um den Vater zu beglückwünschen. Seine Antwort: „Wer weiß?“
Wir wissen nicht, wofür die Katastrophe in Fukushima gut ist. Wir können nur das tun, was wir für notwendig halten. Das Endresultat unseres Tuns und Lassens wird sich erst in Zukunft zeigen. Unsere Sicht der Welt und des Weltengangs ist begrenzt. Auch dies ist Wuwei.
Sicher bin ich nur eines: dass von allen Kräften die Liebe die stärkste ist. Dies ist eine Erkenntnis, die ich durch Daoismus, Buddhismus und Christentum gewonnen habe: Hass, Rache und Gewalt können im Grunde nur durch Mitgefühl und Liebe überwunden werden. Auch im Tao Te King heißt es: „Das Weiche besiegt das Harte.“ Wichtig ist daher, wenn wir für den Erhalt der Erde kämpfen, dass wir es mit Liebe und Güte tun, nicht mit Wut und Bitterkeit. Das heißt nicht, dass wir nicht entschieden für den Verzicht auf die Kernenergie und für regenerative Energie kämpfen. Das heißt nur, dass wir dies mit kühlem Kopf und vollem Herzen tun, in Respekt und in Abgrenzung von unseren Gegnern.
Es ist eine uralte psychotherapeutische Weisheit: Wir können andere nicht ändern. Wir können nur uns selbst ändern. Wie ich oben ausgeführt habe, geht es in der humanen Umgestaltung unserer Welt vor allem um die Überwindung unserer eingefleischten Gewohnheiten, es geht um eine fundamentale Bewusstseinsveränderung, welche die notwendige Basis bildet, um in der materiellen Welt die dringend erforderlichen Reformen durchzuführen. Wir kennen aus der Psychotherapie, wie mühsam dieser Prozess der Selbsterforschung und Selbstveränderung sein kann. Wir springen nur, wenn wir müssen. Therapie hat nur Erfolg, wenn der Leidensdruck stark genug ist und der Wille zur Veränderung fest ist.
Es ist eine uralte psychotherapeutische Weisheit: Wir können andere nicht ändern. Wir können nur uns selbst ändern. Wie ich oben ausgeführt habe, geht es in der humanen Umgestaltung unserer Welt vor allem um die Überwindung unserer eingefleischten Gewohnheiten, es geht um eine fundamentale Bewusstseinsveränderung, welche die notwendige Basis bildet, um in der materiellen Welt die dringend erforderlichen Reformen durchzuführen.
Wir kennen aus der Psychotherapie, wie mühsam dieser Prozess der Selbsterforschung und Selbstveränderung sein kann. Wir springen nur, wenn wir müssen. Therapie hat nur Erfolg, wenn der Leidensdruck stark genug ist und der Wille zur Veränderung fest ist.
Dazu brauchen wir einen guten Beistand. In der Therapie ist es die Person des Therapeuten und der therapeutischen Gruppe. Im Leben sind es unsere Familie, unsere Lieben, unsere Freunde, unsere Mitstreiter und Kampfgenossen. Resilienz – die Widerstandskraft gegen extreme Widrigkeiten – wird vor allem getragen durch die Zugehörigkeit in einer Gruppe, die von gleichen Werten beseelt ist. Daher ist es gut, in Krisenzeiten uns Gleichgesinnten anzuschließen, gemeinsam zu diskutieren, planen, handeln und – meditieren. Eine Überzeugung allein zu haben, reicht nicht aus, um Resilienz zu entwickeln. Das hat die Forschung gezeigt. Eine Überzeugung mit anderen zu teilen, das ist es, das uns Kraft gibt, widrige Lebensumstände zu bestehen und zu überwinden.
Ein Letztes: Über allen Krisen und Katastrophen dürfen wir eins nicht vergessen: Dass wir unsere Lebenslust und Lebensfreude behalten und nähren. Wenn wir aufhörten zu lachen, uns zu freuen, uns zu lieben, die Welt zu umarmen – was hätte der Kampf für einen Sinn? Jeden Atemzug, der uns vergönnt ist, zu genießen, die Natur in und um uns bewundern, uns unserer Eltern und unserer Kinder zu erfreuen, glücklich zu sein, die Welt und die Menschen trotz ihrer Widersinnigkeit und Verletzlichkeit weiter zu lieben, ja noch mehr zu lieben – das könnte sein, was das Leben lebenswert macht.
Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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