von Victor Chu
Kösel 2008
ISBN 3466307715
Partnerwahl: Liebe ich ihn/sie wirklich?
Bevor zwei Menschen sich für eine lebenslange Beziehung entscheiden, sollten sie sich im klaren sein, ob der Partner wirklich die Person ist, mit der man sein Leben teilen möchte.
Dies mag banal klingen, aber wenn wir über Treue und Untreue nachdenken, hat es keinen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen, ob man einem Partner treu sein soll, wenn man nicht einmal weiß, ob man ihn liebt.
Ein Beispiel: Eine junge Frau berichtet zum Beispiel, dass sie kurze Zeit, nachdem sie ihren ersten Freund hatte, sich in einen anderen jungen Mann verliebt hatte. Sie konnte sich nicht entscheiden. Eine Zeitlang ging sie mit beiden, ohne dass der eine vom anderen wusste. Nach einiger Zeit lösten sich beide Beziehungen von alleine. Sie fühlte sich erleichtert. Dann lernte sie ihre große Liebe kennen. Seitdem hat sie kein Bedürfnis mehr nach einem Seitensprung.
Sich selbst zu kennen, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gelingende Partnerschaft. Als junger Mensch kennt man ja die eigenen Bedürfnisse bezüglich einer Partnerschaft noch nicht. Man tastet sich an die Sexualität heran, muss erst einmal den eigenen Körper und den des anderen Geschlechtes erkunden. Was sind die eigenen Vorlieben, welche sind die Bedürfnisse des Partners? Wie viel Zeit will man zusammen verbringen, wie viel Zeit braucht man für sich? Was hat man für gemeinsame Interessen? Wo geht man getrennte Wege? Will man zusammenleben? Welche Zukunftspläne hat man? Will man Kinder, will man keine? Wie geht man mit dem Geld um? Welches Verhältnis möchte man mit der Verwandtschaft haben? Lassen sich Arbeit und Freizeit beider Partner vereinbaren? Wo möchte man seinen Urlaub verbringen?
Hinter all diesen Einzelfragen steht die Kardinalfrage: „Liebe ich ihn/sie? Bin ich glücklich mit ihm/ihr? Kann ich mir vorstellen, mit ihm/ihr mein ganzes Leben zu verbringen?“ Dies ist eine lebensentscheidende Frage. An keinem anderen Lebensbereich knüpfen wir soviel Hoffnung wie an der Liebesbeziehung. Liebe ist für die meisten Menschen ein Synonym für Glück schlechthin.
Wie viele junge (und nicht mehr junge) Menschen sind auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage! Heutzutage erwartet glücklicherweise keiner mehr, dass man gleich den heiratet, mit dem man zum ersten mal intim wird. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet.“, steht in Schillers „Lied von der Glocke“. Eine solche Prüfung kann lange dauern, für manche Menschen kann sie Jahre, sogar Jahrzehnte dauern, bis sie den Richtigen oder die Richtige finden.
Nun wissen wir alle, von welchen Zufällen und äußeren Umständen eine Partnerwahl abhängen kann. Manche begegnen schon bei ihrem ersten Kontakt mit dem anderen Geschlecht ihrer großen Liebe, andere bekommen gleich ein Kind, obwohl sie nicht zum Partner passen. Banale äußere Umstände wie Wohnort, Urlaub oder Ausbildung können einen jungen Menschen mit einem zukünftigen Lebensgefährten zusammenführen. Andere gravierendere Ereignisse wie Krieg, Flucht oder Migration können die Partnerwahl entscheidend beeinflussen. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen, religiösen oder politischen Gruppierung gibt manchmal den Ausschlag dafür, welche Partner in Betracht kommen und welche ausgeschlossen sind.
Jürg Willi hat einmal in einer Untersuchung herausgefunden, dass viele Paare gar nicht so sehr aus Liebe zusammenbleiben. Es sind gemeinsame Dinge, Erlebnisse und Beziehungen wie Haus, Urlaub, Kinder und Alltagsgewohnheiten, die Paare zusammen halten. Dies ist zwar eine plausible Erklärung für die Zähigkeit oder Festigkeit, mit der viele Paare zusammenbleiben, selbst wenn ihre Zuneigung begrenzt ist. Wo aber Liebe fehlt, ist die Gefahr, dass einer oder beide Partner fremdgehen, groß. Plötzlich taucht ein Mann oder eine Frau auf, mit der man sich richtig gut versteht oder zu dem man sich magnetisch hingezogen fühlt. Dann realisiert man, dass der eigentliche Partner eigentlich nur eine Funktion erfüllt: er bewahrt einen vor dem Alleinsein, er versorgt einen materiell, ist ein guter Vater oder eine gute Mutter für die Kinder, und so weiter. All dies gibt Sicherheit, aber es reicht nicht für eine ganzes Leben.
Dann kommt noch die Mühle des Alltags hinzu. Auch wenn man anfangs unsterblich ineinander verliebt war und im siebten Himmel schwebte, irgendwann holt einen doch der graue Alltag ein. Man entdeckt, dass der glühende Liebhaber einen Bauch hat und die wunderschönen Locken der Angebeteten gefärbt sind. Auch der aufregendste Sex wird mit der Zeit zur Routine. Die Partner lernen sich auch in den weniger schönen Seiten kennen. Wenn dann noch Kinder dazu kommen, dann ist das Paar schnell in der Bewältigung des Alltags gefangen. Es bleibt wenig Zeit für die Pflege der Zweierbeziehung und den Genuss der Zweisamkeit. Es ist alles andere als leicht, wenn sich zwei Menschen zusammentun, die jeder einen eigenen Lebensrhythmus, einen anderen Geschmack und persönliche Idealvorstellungen haben. Im täglichen Zusammensein gibt es mannigfache Gelegenheiten, an denen sich größere und kleinere Konflikte entzünden können. Man fühlt sich leicht missverstanden, ist von Unaufmerksamkeiten des Partners gekränkt. Meistens steckt man diese kleinen Frusts und Ärgernisse weg, weil man sich ja liebt. Auf diese Weise summieren sich kleine Verstimmungen, bis sie sich in ersten Streitigkeiten und Auseinandersetzungen entladen. Wenn man jung ist, will man alles ganz richtig machen. Man möchte auch, dass der Partner alles richtig macht. So prallen Wünsche und Meinungen aufeinander. Man ist leicht verletzt, hat das Gefühl, der andere versteht einen nicht, und zieht sich beleidigt zurück.
Wenn man jung ist, hat man auch noch nicht gelernt, seine eigenen Wünsche konkret zu äußern. Manchmal kennt man die eigenen Bedürfnisse noch nicht mal richtig, man hat nur eine leise Ahnung oder eine vage Vorstellung von dem, was man sich wünscht. Wie soll man so ein nebulöses Gefühl ausdrücken? Man hat auch nicht gelernt, dem anderen zuzuhören. Jeder Partner bringt von seiner Herkunftsfamilie ein ganz anderes Repertoire an Verhaltensmustern und ein ganz anderes Spektrum an Gefühlsäußerungen mit in die Beziehung, das erst vom andere entziffert werden muss.
Gelegentlich ist es so, wie eine neue Sprache zu lernen, wenn man eine Beziehung eingeht. Schließlich haben viele von uns auch nicht gelernt, dass „Streiten verbindet“, dass eine gute Beziehung ausgehandelt werden muss. „Beziehung ist Verhandlungssache!“, sagte einmal meine Therapeutin. Was sich profan anhört, ist wahr. Aber welcher Verliebter denkt je daran, mit seiner Angebeteten in Verhandlungen treten zu müssen! Im Gegenteil, mit der rosaroten Brille meint jeder, man verstehe sich ganz ohne Worte, ist doch das Schönste an der Verliebtheit, dass man alle seine Wünsche und Idealvorstellungen in den Geliebten hineinprojizieren kann!
Aber die wenigsten Menschen können Gedanken lesen, wenn sie sich noch so lieben. Also müssen wir lernen, unsere Gefühle und Gedanken präzise zu erfassen, um sie dann dem Partner zu kommunizieren. Einem Liebespartner zu sagen, was man sich von ihm wünscht, vor allem wenn es um persönliche Vorlieben und Empfindlichkeiten, um sexuelle Wünsche und Phantasien geht, ist eine Aufgabe, an der man lebenslang feilen kann.
In einer engen Beziehung geht es auch um das Neinsagen, das Äußern von Kritik oder Missfallen. Einem geliebten Menschen gegenüber Kritik oder Missfallen zu äußern fällt vielen schwer, man will ihn ja nicht kränken oder zurückweisen. Gerade weil man die Harmonie so genießt, möchte man keinen dissonanten Ton anschlagen. Man will die symbiotischen Zustand, das Glück des wortlosen Einverständnisses so lange wie möglich erhalten. Jedes Nein bringt einen Misston ins Liebeslied, und man weiß nicht, wie viel Dissonanz die eben neu begonnene Beziehung aushält. Wird es beim ersten Misston zerspringen – dieses noch so zerbrechliche Glück?
Hier spielt wieder die Erfahrung in der Kindheit eine entscheidende Rolle. Ist man in einer Familie aufgewachsen, in der gegenteilige Meinungen geäußert und respektiert werden? Oder ist man bestraft worden beim leisesten Zeichen eines Widerspruchs? Hatte man als Kind das Recht gehabt, einen eigenen Standpunkt zu haben und zu vertreten? Wurde dies geduldet, war es gar erwünscht? Auch hier reagiert man automatisch so, wie man es im Elternhaus gelernt hat.
Geschlechtsstereotypien spielen auch eine Rolle. Während Frauen zumindest in früheren Zeiten dazu erzogen wurden, still zu sein, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zurückzustellen und stattdessen indirekt, auch auf manipulativem Wege ihre Ziele zu verfolgen – die Frau sollte Spiegel des Mannes sein –, haben Männer gelernt, sich als Familienoberhaupt durchzusetzen und zu bestimmen. Auf die eigenen Gefühle zu achten oder auf das Gegenüber zu hören gehörte nicht zu ihrem Repertoire.
So sind die meisten Frauen Expertinnen geworden im Erspüren dessen, was ihr Partner braucht. Wenn es aber um ihre eigenen Bedürfnisse geht, wenn es um ein klares Nein geht, ein „Bis hierher und nicht weiter“, blockiert etwas in ihnen. Umgekehrt können viele Männer zwar geschäftliche Verträge wunderbar aushandeln, aber wenn es um die eigenen Gefühle, vor allem die zarteren geht, sind sie wie Analphabeten. Das einzige Gefühl, das ihnen zugänglich ist, ist Wut. Wenn ein Mann sich verletzt fühlt, Angst hat, sich schämt oder traurig ist, kann er kaum etwas von all dem zeigen. Entweder verlässt er wortlos den Raum, oder er fängt an zu poltern, wird laut, manchmal auch gewalttätig. Dies wirkt für seine Frau und Kinder vielleicht beängstigend und bedrohlich, ist aber im Grunde ein Zeichen emotionaler Hilflosigkeit.
Nun zurück zur Paarbeziehung. Wenn ein Paar nicht lernt, die unterschiedlichen Wünsche und Ansichten auszudrücken und Lösungen auszuhandeln, kommt es leicht zu Machtkämpfen. Wie in der Politik gibt es Krieg, wenn Verhandlungen scheitern. Im Ehekrieg kommt es dann zu heftigen Wortgefechten, zu handfesten Streiten bis hin zu Handgreiflichkeiten und Gewalt. Oder man bestraft den Partner mit stummem Rückzug und Liebesentzug. Es kommt zu Drohungen und Erpressungen. Der eine Partner wird depressiv und isst sich dick, der andere fängt an zu trinken, oder sitzt abends nur noch vor dem Fernseher oder dem Computer. Kinder werden in die Auseinandersetzung hineingezogen und als Munition oder Bündnispartner benutzt. Geld als Möglichkeit der Zuwendung oder Bestrafung wird ebenfalls als Waffe eingesetzt.
In solchen Machtkämpfen kann das Fremdgehen auch zur Waffe werden. Nicht selten beginnt irgendwann der hilflosere oder schwächere Partner (zum Beispiel ein Mann, der seiner streitbaren Ehefrau verbal unterlegen ist) eine außerhäusliche Affäre. In den Armen einer verständnisvollen Geliebten findet er zum einen Zuflucht und Trost („Meine Frau versteht mich nicht“), zum anderen rächt er sich heimlich an seiner stärkeren Kontrahentin. In den Heimlichkeiten ihr gegenüber fühlt er sich machtvoll, in Kontrolle. Sein süßes Geheimnis ist die Burg, in die er sich vor ihr verschanzt.
Seitensprünge und Affären sind in diesem Zusammenhang Mittel der Aggression und der Rache gegen den Partner. Man ist unfähig, ihm die eigene Wut offen zu zeigen. Man kann sie nur ausagieren. In manchen Beziehungen zieht dies eine Spirale der Aggression und Rache nach sich: wenn der Betrogene das Geheimnis entdeckt, rächt er sich oft dadurch, indem er durch einen noch größeren Verrat den Partner demütigt. Es kommt zu einer Eskalation der Gewalt in physischer und sexualisierter Form (die Partner schlafen möglicherweise immer noch miteinander, aber der intime Kontakt bekommt einen brutalen, oft auch perversen Charakter). Aber die gegenseitige Verletzung liegt auf der psychischen Ebene: beide fühlen sich gedemütigt, beschämt, besudelt.
Eigentümlicherweise können sich manche Beziehungen in einem solch destruktiven Stadium lange halten. Dies ist manchmal ein Zeichen für seelische Abhängigkeit. Die Partner haben sich in einem sado-masochistischen Clinch ineinander festgebissen. Gleichzeitig scheint das Fremdgehen die Beziehung auch zu stabilisieren, indem ein „Gleichgewicht des Schreckens“ aufrechterhalten wird. Wie alle Psychotherapeuten wissen, gehört Masochismus zu den am schwersten behandelbaren Störungen.
Ein Beispiel: Eine vitale Frau heiratet einen schwächlichen Mann. Er kann seine Unterlegenheit eine Zeitlang durch seine hohe gesellschaftliche Stellung kompensieren (er gehört zu einer angesehen Familie), dann genügt er seiner Frau nicht mehr, weder sexuell noch partnerschaftlich. Sie fängt an, an ihm herumzukritisieren. Er sagt lange nichts, zieht sich zurück. Sie verfolgt ihn mit ihren Beschimpfungen. Irgendwann wird er gewalttätig. Sie zeigt ihn an. Er verspricht Besserung, aber beginnt eine heimliche Affäre mit einer sehr viel jüngeren Frau.
Bei einem weniger leidenschaftlichen Paar zeigt sich der alltägliche Frust in anderer Gestalt, vor allem in der Langeweile. Die Beziehungsprobleme mögen die gleichen sein, jedoch haben die Partner weder Lust noch Energie, die Konflikte offen anzusprechen. Sie wollen sich nicht streiten – es ist ja alles nicht so schlimm, schließlich hat man ja ein nettes Zuhause geschaffen, die Kinder sind brav, alles ist bestens geregelt. Wenn sich Unstimmigkeiten einstellen, wird das bei einem Gläschen Wein heruntergespült. Abends sitzt man gemütlich nebeneinander vor dem Fernseher, das Gespräch beschränkt sich auf den nächsten Urlaub oder das nächste Familienfest. Alles ist in Ordnung. Eine scheinbar glückliche Familie ... Bis plötzlich die ganze Nachbarschaft aufgeschreckt wird, dass die Frau mit einem ebenfalls verheirateten Mann „durchgebrannt“ ist. Sie hat alles – Haus, Kinder, Ehepartner – von heut auf morgen verlassen. Verständnisloses Kopfschütteln überall. Alle haben Mitleid mit dem verlassenen Ehemann. Irgendwann taucht die Frau reumütig wieder auf. Sie bittet den Mann um Verzeihung. Dieser ist zwar verletzt, aber auch froh, dass sie zurückgekehrt ist. Allein wusste er mit Kindern und Haushalt wirklich nicht weiter. Er will nicht darüber gesprochen. Schwamm darüber. Lasst uns weiterleben, als wenn nichts gewesen wäre ...
Sie hat doch alles gehabt, sagen sich die Nachbarn – einen treuen Ehemann, der für sie sorgt, ein schönes Haus, brave Kinder, ein schickes Auto, sogar eine Reinmachefrau, die mehrmals in der Woche kommt. Was will sie mehr?
Die Frau versucht zwar, so weiterzuleben wie bisher. Irgendetwas hat sich aber für sie verändert. Sie möchte, dass sich etwas in ihrer Beziehung bewegt. Schließlich sucht sie eine Therapeutin auf. Dieser erzählt sie:
„Eigentlich liebe ich meinen Mann. Aber mit der Zeit ist alles zur Routine geworden. Mein Mann war am Anfang aufmerksam, brachte mir Rosen, war liebevoll im Bett. Aber irgendwann schlief alles ein. Er hat sich irgendwann mehr für seinen Job, sein Auto, seine Hobbies, die Aktienkurse, den Fußball und seine Kumpels interessiert als für mich. Wenn ich mich für ihn schön machte, fiel es ihm gar nicht auf. Stattdessen schaut er auf andere Frauen, machte ihnen Komplimente, wie er sie mir früher gemacht hat. Ich war nur gut dafür, ihm sein Essen vorzusetzen, wenn er von der Arbeit nach hause kam, seine Wäsche, seinen Haushalt und seine Kinder in Ordnung zu halten, und am Wochenende mal miteinander zu schlafen.
Als ich den anderen Mann kennen lernte, fühlte ich mich auf einmal wieder als Frau gesehen. Er hörte mir zu, machte mir Komplimente, auf einmal fühlte ich mich wieder begehrt und begehrenswert. Ich bin wieder zum Leben erwacht. Es war eine so unglaublich Leidenschaft, die er in mir entfacht hat, dass ich schier meinen Verstand verlor. Ich wäre mit ihm bis ans Ende der Welt gegangen, wenn er mich darum gebeten hätte.
Wenn er nicht selbst Familie gehabt hätte und wenn ich mich nicht nach meinen Kindern gesehnt hätte, wäre ich zu ihm gezogen. Aber so hat doch die Vernunft bei uns beiden gesiegt. Ich liebe ja auch meinen Mann. Er ist so zuverlässig und gutmütig. Er hat mir auch keine Vorwürfe gemacht. Er tat mir richtig leid, wie er still für sich gelitten hat. Und die Kinder haben sich so gefreut, als ich zurückkam.
Ich habe versucht, nach meiner Rückkehr das alte Leben wieder aufzunehmen. Aber es geht nicht mehr. Es ist nicht der andere Mann, nach dem ich mich sehne. Diese paar Wochen mit ihm werde ich zeitlebens nicht vergessen. Aber es ist vorbei. Ich habe mich für meinen Mann entschieden. Aber ich will nicht das alte Leben fortsetzen. Ich habe erfahren, wie schön es ist, lebendig zu sein, begehrt zu sein, als Frau gesehen zu werden. Ich habe entdeckt, dass ich Träume, Sehnsüchte und Wünsche habe. Ich habe versucht, mit meinem Mann darüber zu sprechen. Er gibt sich Mühe, er ist aufmerksamer als früher. Er will sogar mit mir alleine in Urlaub fahren, wo er sonst doch so viel arbeitet. Aber er kann nicht einmal sagen, dass es mich liebt. Wenn ich ihn frage, wie es ihm geht, dann sagt er nur: ‚Gut!’ Das ist mir auf die Dauer zu wenig.“
In einer langen Beziehung kommt es leicht zur Gewöhnung. Man ist sich des Partners zu sicher geworden. Eine Frau sagte einmal, sie fühle sich wie ein Möbelstück, das auf ihn wartet, oder ein Anrufbeantworter, der ihm berichtet, wer alles angerufen hat. Wenn ein Mann weiß, seine Frau ist jeden Tag da, sie erledigt alles, was notwendig ist, sie hält alles tipptopp, dann ist sie nicht viel mehr als eine Haushälterin, Erzieherin seiner Kinder, seine Sekretärin, Köchin, Gesellschafterin und Bettgenossin. Sie sinkt in seiner Wahrnehmung quasi in den Hintergrund – ein vertrautes Möbelstück nimmt man auch nicht mehr bewusst wahr. Nur wenn es nicht mehr da ist, dann „fehlt etwas“.
Es ist bei Frauen in den meisten Fällen weniger die sexuelle Anziehung eines Konkurrenten als vielmehr das Desinteresse und die Vernachlässigung vonseiten ihres Mannes, das sie (meist erst nach einer langen Frustrationszeit) zum Seitensprung bewegt. Es sind eigentlich drei ganz einfache Dinge – Aufmerksamkeit, Komplimente und das Gefühl, als Frau begehrenswert zu sein, die sie bei ihren Männern vermissen. Darüber haben ihre Partner früher, in der Zeit der Werbung, durchaus verfügt (und sie stehen ihnen sofort wieder zur Verfügung, wenn sie einmal einer attraktiven Frau begegnen!). Das Nachlassen ihres Interesse an der eigenen Frau setzt einen Kreislauf in Gang: sie fühlt sich weniger gesehen, fängt ebenfalls an, sich äußerlich und innerlich zu vernachlässigen. Dies macht sie in den Augen des Partners noch unattraktiver, und so weiter, bis es knallt – oder sie wird depressiv und krank.
In Bezug auf Untreue unterscheiden sich Männer in einem Punkt deutlich von Frauen: dieses Phänomen wird auf Englisch Compartmentalizsation genannt. Damit ist die Gewohnheit gemeint, Lebensbereiche und Beziehungen, die eigentlich zusammengehören, voneinander getrennt in verschiedenen Abteilungen (Compartments) zu unterbringen. Männer neigen dazu, ihre Affären und Seitensprünge von ihrer Beziehung daheim abzuspalten. Das heißt, Männer können im Allgemeinen besser mit der Vorstellung leben, eine Ehefrau zu hause zu haben und gleichzeitig eine Geliebte zu unterhalten, während Frauen, die fremdgehen, diesen Zustand schwer ertragen können. Es drängt sie danach, eine Entscheidung zwischen dem Ehemann und dem Geliebten zu fällen. Es scheint, als könnten Männer ihre Lebensbereiche leichter in unterschiedlichen „Schubladen“ unterbringen. In ihren Augen hat ihre Ehe nichts mit der Affäre zu tun, so wenig wie sie mit ihrer Arbeit oder ihrem Hobby zu tun hätte. Alles scheint fein säuberlich voneinander getrennt.
Dieses eigenartige Phänomen hat mit einer Spaltung im männlichen Bewusstsein zu tun. Liebe und Sexualität gehören für viele Männer in verschiedenen „Schubladen“: Liebe steht für Heim, Geborgenheit, Zugehörigkeit, während Sex Abenteuer und Eroberung verheißt. Das Frauenbild spaltet sich dann in „die Mama und die Hure“ (wie ich es oben bei der Besprechung der Auswirkung von fehlenden oder getrennten Eltern beschrieben habe). Dies hat zum einen mit der stringenten Aufteilung des männlichen Lebens zu tun: hier die Familie, dort die Arbeit. Fast jeder Junge erlebt, wie sein Vater morgens zur Arbeit geht und abends nach hause kommt. Manchmal bleibt der Vater auch für Tage oder Wochen weg. Was dieser bei der Arbeit erlebt, scheint in einer ganz anderen Welt zu existieren als das Zuhause. So lernen Jungen früh, dass der Mann in zwei scheinbar voneinander unabhängigen Welten lebt. Nicht selten sehen sie ihren Vater schick herausgeputzt und gut gelaunt zur Arbeit gehen. Kaum nach hause zurückgekehrt, fällt er zusammen. Er schlüpft in seine Pantoffeln und wird ein ganz anderer Mensch, missmutig und einsilbig. Auf diese Weise lernen Jungen, die Welt „draußen“ und die Welt „drinnen“ als ganz abgetrennte Lebensbereiche anzusehen.
Zum anderen hängt die Compartmentalisierung mit der männlichen Sozialisation zusammen: unter Jungen und Männern spielen Liebesgefühle keine besondere Rolle, während man mit sexuellen Eroberungen Anerkennung von allen Seiten erntet. Sexualität wird mit Leistung und männlicher Potenz assoziiert, während Liebe etwas ist, über das man eigentlich nicht spricht. Unter Sex verstehen die meisten Männer genitale Sexualität. „Rein, raus – fertig ist der kleine Klaus“, singen Jungen bereits im Kindergartenalter. Wenn die Sexualität so sehr auf den Penis konzentriert ist, gibt es auch wenig mit der Partnerin zu kommunizieren. Obwohl Sexualität das männliche Denken wie kein anderes Thema dominiert, können viele Männer kaum persönlich über ihre Sexualität reden. Somit bleiben ihre Wünsche, ihre Ängste und Sehnsüchte manchmal auch für sie selbst verborgen. Eine dicke Schicht der Scham und Sprachlosigkeit liegt darüber.
All dies trägt dazu bei, dass Männer ausgerechnet in ihrer intimsten Beziehung – nämlich zu ihrer Lebenspartnerin – am schlechtesten über ihre Sexualität austauschen können. Männer leben ihre Sexualität aus, darüber sprechen können sie aber nicht. Potenz ist alles, Zärtlichkeit ist nur Teil des Vorspieles. Männliche Sexualität ist meistens stumm, deshalb kann sie sich auch nur schwer weiterentwickeln, deshalb finden Männer selten wirkliche Erfüllung in der Sexualität. Sie sind ständig auf der Suche nach etwas, was sie nicht benennen können. Dies macht Männer so anfällig für abgespaltene, suchtartige Formen der Lust: außerhäusliche Affären, One-Night-Stands, Pornographie, Online- Romanzen, käufliche Liebe, Sextourismus. All diese Abenteuer berühren den Mann eigentlich nicht in seinem Wesenskern. Die scheinbare Vielfalt der Spielarten männlicher Sexualität ist paradoxerweise ein Beleg für seine Phantasielosigkeit und Hilflosigkeit. Sie macht ihn zum willigen Konsument einer globalen Sexindustrie.
Die weltweite Zunahme der Mobilität trägt ebenfalls dazu bei, dass berufstätige Männer und zunehmend auch Frauen einen großen Teil ihres Berufslebens weit weg von ihrem Heim (und von ihrem Partner) verbringen. In anonymen Hotelzimmern untergebracht, führen sie nach Feierabend eigentlich ein Leben wie Singles und suchen nach Zerstreuung, Gesellschaft und menschlicher Wärme bei Kollegen und Kunden. Wenn man viel Zeit hat und sich einsam fühlt, findet sich leicht jemand, mit dem man flirten oder die Nächte verbringen kann. Früher waren es die „Kurschatten“. Heute gibt es auf Auslandsjobs, Kongressen, Betriebsfesten und Urlauben mannigfaltige Gelegenheiten, eine interessante Bekanntschaft zu machen. Den eigentlichen Partner sieht man nur noch selten in der Woche oder erst am Wochenende. Die Zersplitterung des gemeinsamen Lebens trägt ebenfalls zu den oben beschriebenen „Schubladen-Beziehungen“ bei.
Im Laufe einer langjährigen Beziehung kommt es an typischen Stellen zu Krisen. Man stolpert an diesen Stellen wie über eine Schwelle, deshalb kann man sie auch als Schwellenkrisen bezeichnen.
Entzauberung: Als erster kritische Punkt kann das Herausfallen aus der Verliebtheit angesehen werden. Wenn wir verliebt sind, sind wir im siebten Himmel. Den Partner sehen wir wie durch eine rosarote Brille. Wir idealisieren ihn, projizieren alle unsere Träume in ihn. Er ist unser Märchenprinz, der Traumpartner schlechthin. Irgendwann, die Zeit des Honigmondes kann länger oder kürzer andauern, fallen wir aus der Verliebtheit heraus. Wir wachen von seinem Schnarchen auf, sehen plötzlich die Ringe unter seinen Augen und ärgern uns darüber, dass er sein Frühstücksgeschirr nicht abräumt. Die Realität hat uns eingeholt. Die Schattenseiten des Partners, über die wir anfangs gerne hinweggeschaut haben, kommen zum Vorschein. Ernüchterung, ja Enttäuschung stellt sich ein. Es ist ein Herausfallen aus der Täuschung beziehungsweise Selbsttäuschung, der man in der Verliebtheit erlegen ist.
Auch in der Sexualität ist der Reiz des Neuen weg. Sie wird mehr zur Routine. Wenn es an diesem Punkt sich erweisen sollte, dass nicht viel mehr als die Faszination des Neuen die Beziehung getragen hat, dann kommt es schnell zur Trennung – es sei denn, man hat sich zu früh für den Partner entschieden und ihn geheiratet, oder man hat ein Kind mit ihm bekommen. Dann kann es leicht dazu kommen, dass man, statt sich zu trennen, sich einem Liebhaber oder einer Geliebten zuwendet, um die Enttäuschung zu kompensieren.
Eintritt in eine andere Lebensphase: Eine Schwellenkrise kann auch auftreten, wenn das Paar oder einer der Partner in eine andere Lebensphase tritt: wenn man aus der Schule in die Berufsausbildung kommt, wenn man berufstätig wird, wenn man beruflich aufsteigt, wenn man Kinder bekommt, wenn man in die midlife crisis, dann in die Wechseljahre kommt, wenn die Eltern pflegebedürftig werden, wenn man selbst ins Rentenalter kommt. Alle diese Übergänge stellen neue Herausforderungen dar – sowohl für den Einzelnen als auch für die Paarbeziehung. Denn oft fällt etwas weg, das einen bisher an ihm fasziniert hat, oder es kommt eine Belastung dazu, mit der man bisher nicht gerechnet hat. Hier einige Beispiele:
Das gefährliche mittlere Lebensalter
Eine Frau Ende dreißig hatte lange das Gefühl, sie sei glücklich verheiratet, bis sie einmal im Urlaub einen Mann kennen lernte, der bei ihr ganz andere Gefühle auslöste. Sie war verwirrt, suchte bei ihrem Mann vergeblich nach der Leidenschaft, die der andere in ihr entfacht hatte, bis sie schließlich erkannte, dass sie ihn eigentlich geheiratet hatte, weil er zuverlässig und ein guter Vater ihrer gemeinsamen Kinder war. Sie hatte nach der großen Enttäuschung bei ihm einen schützenden Hafen gefunden. Nun genügt ihr diese Beziehung nicht mehr. Sie merkt, dass sie Lust hat, noch einmal aufzubrechen, um eine leidenschaftliche Liebe zu finden.
Solche Auf- und Ausbrüche von Frauen im mittleren Alter sind nicht selten. Biologisch erreichen Frauen in der zweiten Hälfte der dreißiger den Höhepunkt ihrer sexuellen Aktivität (während Männer ihn schon mit Zwanzig überschritten haben). In diesem Alter erleben Frauen ihre erotische Blüte, während Männer zum ersten mal merken, dass sie nicht mehr so viel und oft können. So kommt es im mittleren Alter bei beiden Geschlechtern leicht zur Aufnahme außerehelicher Beziehungen – und zwar aus ganz unterschiedlichen Motiven: Nachdem die Kinder aus dem Gröbsten gekommen sind, haben Frauen mehr Zeit, an sich zu denken. In ihnen erwacht die Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeit und sexueller Erfüllung. Von ihren Partnern, die in dieser Zeit die Karriereleiter hochgeklettert sind, fühlen sie sich oft vernachlässigt. Wenn sie ihre Enttäuschung äußern und für sich mehr Aufmerksamkeit fordern, fühlen sich die meisten Männer von ihren aufblühenden und aufbegehrenden Partnerinnen überfordert. Wenn sie nicht bereit sind, auf die Bedürfnisse ihrer Frauen einzugehen und mehr Energie in die Zweierbeziehung zu investieren, wenden sich die Frauen enttäuscht ab und wenden sich einem aufmerksameren Liebhaber zu.
Auf der anderen Seite suchen sich Männer im mittleren Alter oft jüngere Frauen, die sie in ihrer Männlichkeit bestätigen und ihnen das Gefühl geben, als Mann immer noch begehrenswert zu sein. Dann braucht ein Mann sich nicht persönlich weiterzuentwickeln, wie seine Ehefrau es von ihm fordert. Die jüngere Partnerin ist weniger anspruchsvoll und „pflegeleicht und entwicklungsfähig“, wie ein Mann seine Geliebte stolz präsentiert. Sie schaut auf den reifen, überlegenen Mann hoch und bewundert ihn (bis auch sie sich irgendwann emanzipiert – aber dann kann man sich ja wieder nach einer Jüngeren umschauen).
Ein Paar kann im Laufe einer langjährigen Beziehung mit solchen und ähnlichen Konflikten konfrontiert werden. Die Partner müssen sich immer wieder auf veränderte Lebensbedingungen einstellen. Eine gute Beziehung kann eine große Stütze bei der Bewältigung dieser Krisen sein. Dazu ist es notwendig, dass die Partner sich beständig austauschen, dass sie sich auseinandersetzen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Gelingt dies, dann wird die Beziehung gestärkt aus den Herausforderungen hervorgehen. Misslingt es, dann zerbricht sie möglicherweise, oder man flüchtet in andere Beziehungen, um dort Trost und Beistand zu finden.
Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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