Vortrag im Gestalt-Netzwerk-Südwest
am 8. Nov. 2013 von Victor Chu
Seit einigen Jahren beobachte ich, wie Jungen und junge Männer hinter ihren weiblichen Zeitgenossinnen zurückfallen: in der Familie, in der Schule, in der Universität, in der Arbeitswelt. Den selbstbewussten, aufstrebenden Mädchen und jungen Frauen haben sie nichts entgegenzusetzen. Jungen bleiben häufiger in der Schule sitzen. Eltern beklagen sich, dass ihre Söhne die Schule schwänzen, stundenlang vor dem PC hocken, dass sie in Alkoholrausch und Cannabisapathie abtauchen, dass sie nach Beendigung der Schule nicht wissen, was sie aus ihrem Leben machen sollen und stattdessen zuhause beim „Hotel Mama“ ihre Zeit totschlagen. Jungen versagen immer häufiger in unserer Gesellschaft. Ihnen fehlen positive Vorbilder und Lebensziele. Viele resignieren, andere werden gewalttätig – nicht zuletzt in ihrer Partnerschaft. Das Familienministerium heißt offiziell: „Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ – das Wort „Männer“ fehlt, in der irrigen Annahme, Männer bräuchten keine Förderung, sie seien sowieso privilegiert – eine fatale Fehleinschätzung.
Die mit der Globalisierung einhergehende Ausbeutung der Erde ist Ausdruck einer Ignoranz gegenüber natürlichen Kreisläufen. Die Gier und Unersättlichkeit, mit der wir die Natur ausbeuten, ist eine männliche: dafür werden Geld und Waffen rücksichtslos eingesetzt. Der Irakkrieg war nicht die erste kriegerische Auseinandersetzung um den Besitz natürlicher Ressourcen. Das Dritte Reich begründete ihren Feldzug gegen Osten mit einer Blut und Boden-Ideologie. Der hegemonialen Politik heutiger Großmächte liegt ebenfalls die Sicherung der globalen Rohstoffreserven zugrunde. Wenn wir unserem menschlichen Größenwahn (der vorwiegend ein männlicher ist) nicht Einhalt gebieten, ist die Zukunft der Menschheit bedroht. Wir führen im Grunde Krieg gegen die Natur.
Auf der Suche nach den Ursachen der heutigen Krise stoße ich immer wieder auf den Krieg: Krieg als pervertiertes männliches Prinzip. Im Krieg entfaltet sich das männliche Prinzip in ihrer vollen Macht. Gleichzeitig vernichtet der Krieg Männerleben und Männerseelen millionenfach. Das im Krieg pervertierte männliche Prinzip zerstört sich selbst.
Der Zusammenhang zwischen der heutigen Vaterlosigkeit und den Weltkriegen
Die beiden letzten Weltkriege haben Millionen Männern das Leben gekostet.
Jeder Krieg lässt gleichzeitig ein Heer von psychisch kranken Invaliden zurück. Von den Millionen überlebenden Kriegsveteranen aus dem Zweiten Weltkrieg kehrten viele kriegstraumatisiert in ihre
Familien zurück.
Kriegskinder:
Die Kriegskinder wurden kurz vor oder während des Krieges geboren. Diese Kinder haben ihre Väter kaum oder nicht gekannt. Sie erlebten ihre Väter höchstens dann, wenn diese Fronturlaub bekamen.
Ansonsten mussten sie die Mutter trösten und ihr beistehen. Besonders die Söhne nahmen unmerklich die Rolle des fehlenden Vaters ein. Diese hervorgehobene Position brachte zwar Privilegien mit
sich, aber auch Belastungen durch die Funktion als Partnerersatz, als Intimberater der Mutter, oft auch als Ernährer der Familie. Sie verloren damit ihre Kindheit, mussten zu früh erwachsen
werden.
Sie konnten aber im Herzen nicht zu richtigen Männern heranwachsen. Ein Junge braucht das väterliche Vorbild, um Mann zu werden. Er braucht ein reales männliches Gegenüber.
Ein Junge, dem der Vater fehlt, muss dieses innere Loch durch ein Idealbild ersetzen. Er bastelt sich ein vollkommenes männliches Wesen, das er Vater nennt, und stellt dieses aufs Podest. Er ahmt
dann diesem Idealbild nach, nicht wissend, dass es nur eine Projektion ist, ein selbstgemachtes Trugbild. Da das Idealbild immer vollkommen ist, entsteht im Jungen der Anspruch, perfekt sein zu
müssen. Aber niemand kann perfekt sein. Der junge Mann, der dem selbstgestellten Anspruch nicht genügen kann, bekommt Minderwertigkeitsgefühle, die er schamvoll unter der Maske einer
Pseudomännlichkeit vor der Welt verbirgt.
Dem Jungen fehlt nicht nur das väterliche Vorbild, sondern auch der väterliche Beistand. Ein Sohn braucht die Hand des Vaters, an dem er sich festhalten kann, wenn er Angst hat. Angst ist etwas,
das jeder vaterlose Mann kennt, aber kaum einer wagt, sich zuzugestehen. Zu tief ist die Scham, als „unmännlich“ zu gelten.
Einen Vater braucht man auch, damit die Mutter einen Mann an ihrer Seite hat. Wenn sie keinen hat, springt der Sohn automatisch ein. Ein vaterloser Junge geht auch deshalb nicht in die Welt, weil
er die Mutter nicht alleinlassen möchte. Das kennen wir aus dem Lied „Hänschen klein“.
Egal, in welcher Maske der vaterlose Mann auftritt, eines haben alle Vaterlose gemeinsam: das Gefühl, etwas nicht sein zu können, wonach sie sich am meisten sehnen, etwas, von der sie nur
eine vage Ahnung haben, etwas, das sie weder benennen noch erfassen können.
Vaterlose Töchter
Wie war es für die Töchter, die im Krieg und in der Nachkriegszeit ohne Vater aufwachsen mussten? Sie lernten von ihren Müttern, ohne Mann auszukommen. Sie konnten zupacken, viele wurden
beruflich erfolgreich. Aber im Herzen fehlte der Vater. Es fehlte ein Gegengewicht zur Mutter, die alles dominierte und bestimmte. Es fehlte eine starke Schulter, an die sie sich anlehnen
konnten, wenn sie sich schwach fühlten. Vor allem hatten sie kein Vorbild eines männlichen Gegenübers fürs eigene Frausein. Sie hatten nicht gesehen, wie Mutter und Vater eine reale
Liebesbeziehung leben. Daher malen sich vaterlose Töchter das Idealbild eines Traummannes, eines Märchenprinzen aus. Sie projizieren das Traumbild in den zukünftigen Partner und werden
verständlicherweise enttäuscht. Der imaginierte Vater nimmt so viel Platz in ihrem Herzen ein, dass sie keinen Platz mehr für einen realen Partner mehr haben.
Wir können vereinfachend sagen: Der vaterlos aufgewachsene Sohn scheitert an dem Idealbild, das er von sich selbst macht. Die vaterlos aufgewachsene Tochter scheitert an dem Idealbild, das sie
von ihrem zukünftigen Partner macht. Beide müssen den fehlenden Vater durch ein Traumbild ersetzen, das später im realen Leben zerplatzt.
Die Sehnsucht nach dem Vater kann aber auch ins Gegenteil umschlagen: in Verachtung und Abwertung. Im ersten Fallbeispiel haben wir gesehen, wie die Mutter des Klienten, deren Mutter vom Vater
verlassen wurde, ihren späteren Mann und ihren Sohn ablehnte und wie dieser sich selbst und den Vater in sich abwertet. Die zwei Seiten des Narzissmus wird hier deutlich: Selbst-Idealisierung und
Selbst-Abwertung, Scham und Stolz.
Die fünfziger Jahre
Wie stand es mit den Familien in der Nachkriegszeit? Im Wirtschaftswunder versuchte man, den Krieg zu vergessen und konzentrierte sich auf den Wiederaufbau. Die traditionelle Familie mit
Vater-Mutter-Kind erstand in den 50er Jahren wie Phönix aus der Asche wieder auf. Die Mutter, die in den Kriegs- und Nachkriegszeiten die Familie durchgebracht hat, kehrte wieder zum Heim und
Herd zurück. Der Vater ging wieder arbeiten, brachte das Geld nach Hause und nahm wieder den Platz des Patriarchen ein.
Die 68er
Aber die Idylle war trügerisch. Die Pseudoharmonie zerbrach in der 68er Revolte. Die Nachkriegskinder stellten die Lebenslügen ihrer Väter, die die Verantwortung für Krieg und Holocaust verdrängt
haben, schonungslos an den Pranger. Eine ganze Generation von Vätern wurde demontiert. Durch die Pille und die Liberalisierung der Abtreibung waren Frauen endlich vom Zwang befreit, ungewollt
Kinder zu bekommen und sich damit in Abhängigkeit von einem Mann zu begeben. Ehe und Familie waren keine Zwangsinstitution mehr, sondern eine frei gewählte Gemeinschaft.
Die Postmoderne
Vom institutionellen und wirtschaftlichen Zwang befreit, stieg die Zahl der Ehescheidungen. Mit zunehmender finanzieller Unabhängigkeit der Frau verschwand die Notwendigkeit, überhaupt zu
heiraten. Damit schwindet unmerklich auch die Bedeutung des Vaters in der Familie. Er wird nicht mehr als Ernährer, Beschützer und Erzieher gebraucht. Wenn die Liebesbeziehung zerbricht, ist es
dann in den allermeisten Fällen der Mann und Vater, der die Familie verlässt.
Hier setzt sich die früher erzwungene Vaterlosigkeit, die durch den Krieg bedingt war, in eine „freiwillige“ Vaterlosigkeit fort. Heute fehlt der Vater, nicht weil er im Krieg gefallen ist,
sondern weil er freiwillig gegangen ist. Heute entledigt sich der Vater selbst. Wie damals im Krieg stehen heute wieder alleinerziehende Mütter und vaterlose Kinder da.
Bis jetzt haben wir uns über das Fehlen der Väter beklagt. Aber wozu brauchen wir Väter überhaupt? Hierzu sollten wir uns die Entwicklung des Kindes anschauen:
1. Der Vater als Schutz für die Mutter-Kind-Dyade
Die erste und wichtigste Funktion des Vaters besteht darin, Mutter und Kind in der Zeit nach der Geburt wie eine schützende Hülle zu beschützen. Während der Schwangerschaft und in der
Säuglingszeit bilden Mutter und Kind eine symbiotische Einheit. In dieser Zeit bildet sich die seelische Bindung zwischen Mutter und Kind, die so wichtig ist für das Gefühl der Sicherheit und
Geborgenheit des Kindes in der Welt.
Die Mutter-Kind-Dyade ist aber eine sehr verletzliche Einheit. Sie kann durch Umwelteinflüsse empfindlich gestört werden. Mutter und Kind brauchen vor allem den väterlichen Schutz in dieser
Zeit.
Ich habe vor vielen Jahren mit meiner Frau und unseren Kindern den Zoo besucht. Die Gorillamutter hat gerade ein Kind bekommen. Alle Besucher drängen sich vor die Glasscheibe, um das niedliche
Kind zu sehen. Davor sitzt aber der gewaltige Gorillamann. Er blickt finster und drohend in die Menschenmenge, mit einem Blick, der unmissverständlich signalisiert: „Kommt ja keinen Schritt näher
– sonst habt ihr mit mir zu tun!“
Die Zuschauer finden, er stört. Er hindert sie daran, einen guten Blick auf Mutter und Baby zu erhaschen. Meine Frau schaut aber den riesigen Gorilla an, dann wendet sie sich zu mir und sagt: „So hätte ich dich gebraucht, als ich die Kinder bekam!“
Wo war ich damals nach der Geburt unserer Kinder? Ich habe gejubelt. Ich habe mich um die äußere Dinge des Lebens, um die materielle Absicherung der Familie gekümmert. Das war durchaus wichtig.
Aber ich habe meine Frau und unser Kind nicht abgeschirmt vor der Welt, damit sie ungestört zusammen sein konnten. Manchmal war ich sogar eifersüchtig um ihr inniges Zusammensein, um das Stillen.
Der Brustneid kommt lange vor dem Penisneid.
Heute weiß ich es besser. Das Wichtigste für einen Mann in der Säuglings- und Kleinkindzeit ist nicht „in die Welt gehen und Geld verdienen“, sondern sich um das Wohlbefinden seiner Frau zu
kümmern. Wenn Frauen dies erfahren, sind sie ihren Partnern unendlich dankbar. Dann entsteht in ihnen automatisch ein gutes Männerbild – ein positives Männerbild, das sie an ihre Töchtern und
Söhne weiterreichen.
Man mag sich fragen: Ja, und was ist mit der materiellen Absicherung der Familie, wenn der Mann sich mehr um Mutter und Kind kümmert? Ich bin heute der Meinung: dies ist Aufgabe der
sozialen Gemeinschaft. Die Mutter kümmert sich um das Kind, der Vater um die Mutter, und die Gemeinschaft sorgt für die werdende Familie. Wenn uns die Familie als Keimzelle der Gesellschaft am
Herzen liegt, wenn wir uns bindungsfähige und selbstbewusste Kinder heranziehen wollen, dann ist es wichtig, hier, in die Anfangsjahre einer Familie zu investieren. (Anstatt, wie heute das
Hauptziel der Familienpolitik ist, die Mütter so schnell wie möglich ins Arbeitsleben zurückzuschicken und die Kinder fremden Betreuern zu überlassen. Selbst die besten Tagesmütter und
Kindergärtnerinnen können Mutter und Vater nicht ersetzen. Die Bindungsfähigkeit der Kinder leidet, wenn sie zu früh von ihren Müttern entfernt werden. Erwachsen geworden, haben solche Kinder es
schwer, sich an eine Person zu binden. Dies zeigt sich spätestens in der Partnerschaft.)
Nun zurück zu der Aufgabe des Vaters:
2. Triangulierung: Der Vater als das andere Gegenüber fürs Kind
Der Vater ist nicht nur wichtigster Ansprechpartner für die Mutter, sondern auch die zweitwichtigste Bindungsperson fürs Säugling. Fürs Kind bildet der Vater den Gegenpol zur Mutter. Er lädt das
Kind ins Abenteuer, ins Unbekannte ein und gibt ihm Halt und Sicherheit im unvertrauten Milieu, während die Mutter eher den Hafen der Sicherheit und Geborgenheit verkörpert, zu dem das Kind
zurückkehrt, wenn es müde ist.
Die für die Kindesentwicklung wichtige Dreiecksbildung zwischen Mutter, Vater und Kind nennt die Psychoanalyse Triangulierung, durch die eine prä-ödipale Dreiecksbeziehung entsteht.
Durch eine erfolgreiche Triangulierung lernt das Kind, angstfrei aus der mütterlichen Sphäre in die Autonomie hinauszugehen. Es überwindet die ausschließliche Mutter-Kind-Dyade und lernt, wie es
später nicht nur eine ausschließliche Zweierbeziehung, sondern auch eine Dreierbeziehung mit Partner/Partnerin und Kind leben kann.
Wenn kein Vater da ist, bleibt das Kind oft zu lange und zu eng mit der Mutter verbunden. Besonders bei einer ängstlich-anklammernden Mutter kann die Mutterbindung zum Gefängnis fürs Kind werden. Der Vater bietet dem Kind also eine Alternative zur Mutter. Dies kann lebensnotwendig sein, wenn die Mutter z.B. psychisch gestört oder gewalttätig gegenüber dem Kind ist. Dann bedarf es einer dritten Person, die fähig ist und die Autorität besitzt, das Kind von der unfähigen oder destruktiven Mutter zu retten und ihm Halt zu geben. Diese Erfahrung ist z.B. wichtig für Menschen, die Gewalt in der Partnerschaft erleben. Wenn sie als Kinder keine Erfahrung eines „rettenden Dritten“ machen konnten, sehen sie als Erwachsene keine Möglichkeit, sich vom gewalttätigen Partner zu entfernen. Sie bleiben in der destruktiven Dyade gefangen.
3. Ödipale Phase: Die Bedeutung des Vaters für die Geschlechtsidentifikation
Zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr entdecken Mädchen und Jungen ihr eigenes Geschlecht. Es ist die Zeit der Doktorspiele. Die Kinder wollen das gegengeschlechtliche Elternteil heiraten
und ahmen im Spiel dem gleichgeschlechtlichen Elternteil nach. Hier ist die Anwesenheit des Vaters für einen Jungen besonders wichtig, weil er sich in dieser Phase entfernen muss von der Mutter,
mit der er bisher symbiotisch verbunden war. Mit Hilfe des Vaters löst er sich aus der weiblichen Sphäre und wechselt ins männliche Lager. In dieser Phase wollen Jungen nicht mehr mit Mädchen
spielen. Wenn er mit dem Vater als „Wir Männer“ gegenüber der Mutter und der Schwester als „Ihr Frauen“ stehen kann, wächst er langsam selbst zum Mann heran.
5. Pubertät: Der Vater als Gegenüber
In der Pubertät erlebt der Heranwachsende zum ersten Mal Zweifel an der väterlichen Autorität. Er beginnt, den Vater auf seine Glaubwürdigkeit zu hinterfragen. Hier muss sich ein Vater in seiner
Authentizität bewähren. Kann er Kritik aushalten? Wie geht er mit Anzweiflungen um? Ein Vater ist nicht nur Vorbild im Erfolg und Gelingen. Er ist auch Vorbild darin, wie er Enttäuschungen,
Misserfolge und Niederlagen bewältigt. Wenn der Sohn sieht, dass der Vater auch Fehler begeht, dass er mit Kränkungen und Enttäuschungen im Leben zu kämpfen hat, aber sich nicht entmutigen lässt,
findet er ein realistischeres Vorbild als bei einem Vater, der nur seine Erfolge präsentiert.
6. Väter als Vorbilder im Beruf
Für viele Menschen stellt der Vater das Vorbild für Beruf und Erfolg dar, bei Jungen wie bei Mädchen. Dies kommt wahrscheinlich daher, dass es bis heute meistens der Mann ist, der Hauptverdiener
in der Familie ist. Ich vermute, dass dies sich verschieben wird, je mehr Frauen sich ins Berufsleben begeben und einflussreiche Positionen einnehmen.
7. Die besondere Bedeutung des Vaters für Töchter
• Selbstbild: Für den Sohn ist der Vater ein Vorbild für sich selbst. Für die Tochter ist der Vater das männliche Gegenüber: für sie ist wichtig, wie er sie sieht. An seinem Blick liest sie ab,
ob sie als Tochter erwünscht ist, ob er sie als Mädchen gut findet, ob sie als Frau schön und begehrenswert ist. Der weibliche Narzissmus der Tochter wird gespeist vom Blick des Vaters auf sie:
Sie liest in seinen Augen wie in einem Spiegel: Schaut er sie abschätzig an oder ist er stolz auf sie? Findet er sie schön oder hässlich? Wie fasst er sie an? Berührt er sie überhaupt, oder
scheut er sich vor ihr? Findet er sie attraktiv, oder hat er Angst vor ihrer Weiblichkeit? Der Blick des Vaters prägt das Selbstgefühl der Tochter als Frau.
• Partnerwahl: Der Vater ist der erste Mann im Leben eines Mädchens. Er ist der Prototyp für seine späteren Männerbeziehungen. Wie ein Mann sich aus der Nähe anfühlt, wie er riecht, das erfährt das Mädchen zuerst vom Vater. Mag es seinen Geruch, oder findet es ihn abstoßend? Wird es später einen Partner nach seinem Abbild suchen, oder soll der Partner alles andere sein, nur nicht wie der Vater?
• Auseinandersetzung: Vom Vater lernen Töchter auch, ob und wie sie sich mit einem Mann auseinandersetzen – im Beruf wie im Privatleben. Können sie vernünftig mit Männern reden? Oder sollen sie sich lieber auf ihre weiblichen Waffen verlassen? Oder ist eine Auseinandersetzung sowieso sinnlos, weil Männer nur Unterwerfung fordern?
• Rückendeckung: Für ein kleines Mädchen ist ein starker, verlässlicher Vater der Held schlechthin. Er ist der Fels in der Brandung, der sie beschützt und ihr Rückendeckung gibt, ein Leben lang.
• Vorbild: Der Vater ist gewöhnlich das Vorbild für das Leben draußen in der Welt. Von ihm lernt die Tochter Selbstvertrauen, besonders in Schule, Studium und Beruf. Was traut er ihr zu? Unterstützt er sie moralisch und finanziell auf dem Weg nach oben?
• Beziehungsvorbild: Von der Art, wie der Vater die Mutter behandelt, liest die Tochter ab, wie sie selbst später in der Partnerschaft behandelt wird. Von ihm lernt sie, ob ein Mann seine Partnerin ehrt oder geringschätzt, ob er Nähe verträgt, ob er sich in der Familie engagiert oder sich fernhält.
• In die eigene Partnerschaft entlassen: Die ödipale Phase ist für Mädchen und Jungen nur eine spielerische Vorbereitung für das spätere Frausein bzw. Mannsein. So sehr das kleine Mädchen auch den Vater einst heiraten wollte, so wichtig ist es für die erwachsene Tochter, dass der Vater sie in ihre eigene Partnerschaft entlässt, dass er sie bereitwillig gehen lässt, dass er sich freut, wenn sie einen eigenen Partner heimbringt. Sie braucht es, dass er ihren Partner respektiert und nicht eifersüchtig reagiert. Sie möchte zwar, dass er sie als Frau weiter bewundert, aber er solle zu seiner Frau stehen, so wie sie von nun an sich an ihren Partner anlehnen wird.
Statistische Erhebungen zeigen, dass Frauen sehr viel häufiger psychisch erkranken als Männer. 22,6% aller Frauen in Deutschland leiden an Angststörungen, 11,4% an Depressionen.
Obwohl es in der Statistik nicht zwischen kinderlosen Frauen und Müttern unterschieden wird, können wir davon ausgehen, dass ein Großteil der psychisch kranken Frauen Mütter sind. Denn sie stehen
unter einer erheblich höheren Belastung als kinderlose Frauen.
Muttersein ist etwas unglaublich Hartes und Schönes. Unglaublich, weil sich eine umfassende körperliche und seelische Metamorphose vollzieht, wenn frau schwanger wird. Es ist zugleich eine
soziale Transformation, weil eine Frau, die Mutter wird, nie mehr ganz allein für sich als ein einzelnes Individuum, sondern stets für sich und das Kind/die Kinder existieren wird. Muttersein ist
hart, weil frau mindestens zwei Jahrzehnte lang für das Wohl eines oder mehrerer unselbständiger Menschen verantwortlich ist. Und es ist schön, weil frau nie mehr im Leben allein sein wird.
Muttersein verbindet eine Frau innig mit dem Vater ihrer Kinder. Es verbindet sie mit ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft. Und es verbindet sie mit Mutter Natur.
Da von allen Spezies Menschenkinder die längste Zeit benötigen, um erwachsen und selbständig zu werden, brauchen Kinder und ihre Mütter eine lange und zuverlässige Unterstützung von ihrer
natürlichen und sozialen Umwelt, um zu gedeihen. Nicht umsonst zögern viele junge Frauen, diesen Schritt zu tun, da sie heute endlich, nach einer Ewigkeit unfreiwilliger Mutterschaft, selbst
darüber entscheiden können und dürfen.
In den letzten Jahrzehnten ist der soziale Druck auf junge Familien stark angestiegen. Mit dem Verschwinden der Großfamilie, der Globalisierung der Wirtschaft und der damit verbundenen Forderung nach Mobilität und Flexibilität bei Arbeitnehmern verschwindet die Basis für eine gesunde Kindererziehung, die eine räumliche, zeitliche und soziale Stabilität erfordert. Dementsprechend steigt der Druck auf junge Eltern und Paare, die sich Kinder wünschen. All dies stellt eine systemimmanente Bedrohung der Familie dar. Hier ein Zitat aus einem Fachbuch über postpartale Depression:
„In den 50er, 60er, 70er Jahren waren feste Arbeitsverhältnisse und feste Arbeitszeiten die Norm. Wer heute ins Berufsleben einsteigt, bekommt immer seltener eine feste Stelle, stattdessen
kurzfristige Verträge, also keine Sicherheit auf Dauer, sondern nur einen Scheck für heute und morgen. Wie soll man auf derart prekärer Grundlage eine Familie gründen, wie die Verantwortung für
ein Kind übernehmen?
Und dann erst recht Arbeitsort und Arbeitszeiten: statt Kontinuität ist die Bereitschaft zum vielfachen Wechsel gefordert. In immer mehr Berufsfeldern gehört heute geographische Mobilität zum
Alltag dazu… In immer mehr Berufsfeldern ist auch zeitliche Mobilität gefragt (Abendkurse oder Wochenendseminar, Nachtschicht oder Wochenenddienst). Das alles ist aus betrieblicher Sicht
zweifellos nützlich. Wie aber verträgt es sich mit den Anforderungen eines Lebens in und mit der Familie, die umgekehrt gerade Kontinuität, Präsenz, Verlässlichkeit braucht? Schon die
Partnerbeziehung wird schwierig, wenn der eine in Graz arbeitet, der andere in Wien. Aber noch schwieriger wird es, wenn erst Kinder da sind. Die kann man nicht im Tiefkühlfach lagern und, wenn
die Dienstreise vorbei ist, wieder herausholen. Es ist nicht verwunderlich, wenn angesichts zunehmender Mobilitätszwänge junge Frauen und Männer sagen: Das schaffe ich nicht. Das ist zu
kompliziert. Da will ich lieber kein Kind…
In den 70er Jahren, als die Frauenbewegung erstarkte, machte eine revolutionäre Forderung die Runde: …Männer sollten die Arbeit im Privaten mit übernehmen. Sie sollten putzen, waschen, kochen
und die Kinder wickeln. Wie wir wissen, ist diese Forderung nur partiell eingelöst worden. Viele Männer der jüngeren Generation haben…tatsächlich ein engeres Verhältnis zu ihren Kindern
entwickelt… Aber dennoch: Es sind die Frauen, die immer noch den Hauptteil der Kinderversorgung und –erziehung übernehmen. Das gilt umso mehr für die allgemeinen Aufgaben im Haushalt. Da bleibt
die Beteiligung der Männer weiter bescheiden…Um den Alltag zu bewältigen, werden oft ganze Netzwerke von Unterstützerinnen eingesetzt (Tagesmutter, Au-pair-Mädchen, Babysitterin, dazu Schwester
und Schwiegermutter als letzte Reserven)… Die Frau wird zur Verantwortlichen in einem Kleinunternehmen. Sie muss die Stundenpläne, Arbeitszeiten, Ferienzeiten, die Daten der Dienstreisen,
Schulfeiern, Kindergeburtstage notieren, mit der Verfügbarkeit der Hilfskräfte koordinieren, muss bei wechselndem Bedarf anpassen und für den Notfall Ersatzkräfte parat haben. Das alles erfordert
beträchtliche Mengen an Nerven und Kraft, nicht zuletzt viel Organisationstalent und Planungsverhalten, sonst bricht das komplizierte Gebäude zusammen… Unter diesen Bedingungen bedeutet
Kinderhaben ein Wagnis.“ (Beck-Gernsheim, E. (2006): Geburtenrückgang und Geschlechterverhalten - Eine Zwischenbilanz. In: B. Wimmer-Puchinger / A. Riecher-Rössler (Hrsg.): Postpartale
Depression. Von der Forschung zur Praxis. Springer 2006)
Angesichts solcher Lebensbedingungen dürfen wir uns nicht wundern, dass immer weniger Frauen sich für Kinder entscheiden, und dass immer mehr Mütter körperlich und psychisch krank werden. Frauen
führen bei der Statistik vom Burnout-Syndrom mit 5,20% gegenüber 3,30% bei Männern.
Ich möchte im Folgenden noch einmal das, was eine Mutter braucht, auflisten:
Eine Mutter braucht:
• eine Mutter, die sie liebt, und von der sie erfahren hat, wie sich eine gute Mutter-Kind.-Beziehung anfühlt. Eine Mutter ist besonders wichtig, wenn eine Frau selbst Mutter wird, als Stütze,
als Ratgeberin und Mutmacherin;
• einen Vater, der sie liebt, der hinter ihr steht, und der gleichzeitig sie zum Partner ihrer Wahl gehen lässt;
• Schwestern und Freundinnen, die als weibliches Unterstützungssystem jederzeit zur Verfügung stehen;
• einen Partner, der sie liebt und respektiert, der die Hälfte der familiären Belastungen und Aufgaben trägt, und der bereit ist, von seinen Interessen und Bedürfnissen zurückzutreten, wenn sie
ihn braucht.
• eine mutter- und kinderfreundliche soziale Umwelt;
• eine politische und wirtschaftliche stabile Umwelt, in der sie in Frieden, Freiheit und materiellem Wohlergehen ihre Kinder großziehen kann.
Unter diesen Punkten verdient die Beziehung zwischen den Eltern besonderes Augenmerk. Denn sie ist die tragende Säule für die Familie. Daher möchte ich als Letztes auf die Paarbeziehung eingehen:
Elternschaft ist die Reifungszeit für Mann und Frau. Es ist die Zeit, in der beide die Chance haben, wirklich erwachsen zu werden – als Kinder ihrer Eltern, als Lebenspartner, als Mutter und als
Vater.
Wieso?
Wenn wir Eltern werden, durchlaufen wir, parallel zum Werden und Wachsen unserer Kinder, alle Stadien unserer eigenen Kindheit. Wir sind doppelt, wenn wir Eltern werden: Wir sind Eltern für
unsere Kinder im Hier und Jetzt. Gleichzeitig durchlaufen wir, wie auf einer Parallelschiene, unser vergangenes Leben als Kinder unserer Eltern. Eine Frau, die schwanger wird und ein Kind
gebiert, erlebt ihr einstiges eigenes Wachsen im Mutterbauch. Ein Mann, der Vater wird und das Aufwachsen seiner Kinder verfolgt, wird sich immer wieder in seinen Kindern wiederfinden, in
direkter Identifikation mit seinen Söhnen, in gegengeschlechtlicher Widerspiegelung zu seinen Töchter (das heißt in seinem früheren Verhältnis zur Mutter und allen wichtigen Frauen in seinem
Leben).
Das bedeutet: Wenn wir Eltern werden, haben wir
(1) die Chance, unsere Kindheit und Jugend zu verarbeiten – unsere Traumata zu bewältigen, unsere Verluste zu betrauern, unsere inneren Löcher zu stopfen. Schon dadurch werden wir reifer und erwachsener.
(2) Gleichzeitig wachsen wir in die Mutter- und Vaterrolle hinein. Wir werden verantwortungsbewusster. Wir werden unserer Macht und unserer Ohnmacht als Eltern bewusster. Wir wachsen in
unserer Liebesfähigkeit und Leidensfähigkeit. Als Kinder unserer Eltern und als Eltern unserer Kinder bekommen wir ein Gespür für den Fluss des Lebens durch die Generationen hindurch.
Wir werden demütiger.
(3) Schließlich wachsen wir in eine gelebte Partnerschaft hinein. Wenn unser Partner gleichzeitig Liebespartner, Lebenspartner und Mit-Elter ist, wechselt er ständig in seiner Rolle uns
gegenüber. Unsere erotischen Gefühle springen bisweilen in Sekundenschnelle in den Frust über liegen gebliebenes schmutziges Geschirr oder den Schreck über einen unerwartet hohen
Überziehungskredit um. Wir müssen mit einander widersprechenden Bedürfnisse, Erwartungen und Befürchtungen unserem Partner gegenüber fertig werden – eine ungeheure Herausforderung an unsere
Toleranz, unser Selbstwertgefühl und unsere Liebes- und Leidensfähigkeit.
Alle drei Prozesse – die Verarbeitung unserer Kindheit, das Hineinwachsen in die Elternrollen, die Wechselstürme unserer Partnerschaft – laufen parallel ab. Sie geschehen gleichzeitig. Wir haben
nicht die Möglichkeit, sie sukzessiv hintereinander zu durchlaufen, wie es eigentlich logisch wäre: Wir können nicht zuerst unsere Kindheitstraumata bearbeiten und dann in Partnerschaft und
Familie eintreten. Das würde mehr als ein Menschenleben erfordern, bis wir einigermaßen fertig werden. Nein, wir müssen uns, so unvollkommen wie wir sind, ins kalte Wasser springen und hoffen,
dass wir uns irgendwie übers Wasser halten und mit der Zeit zu schwimmen lernen.
Elternschaft ist tatsächlich hart. Die Zeit mit kleinen Kindern gehört zu den härtesten im Menschenleben. Aber sie ist, wie bereits erwähnt, eine der fruchtbarsten – wenn beide Partner bereit
sind, daran zu arbeiten. Heutzutage haben wir die Möglichkeit, unsere eigenen Kindheit und unsere aktuellen Konflikte als Partner und Eltern in der Therapie zu bearbeiten. Dies ist eine ungeheure
Chance, als Individuum, als Paar und als Eltern zu wachsen. Natürlich besteht auch, wie uns die Scheidungsstatistik zeigt, das Risiko, dass wir scheitern. Aber dafür zu kämpfen lohnt
sich.
Fritz Perls hat einmal gesagt: „To suffer your own death and to be reborn is not easy“. (Den eigenen Tod zu erleiden und wiedergeboren zu werden ist nicht einfach.) Dies gilt zum einen für unsere
Loslösung von unseren Eltern, um autonom und selbständig zu werden. Danach geht es aber in einer frei gewählten Partnerschaft darum, autonom zu bleiben und in einer Mann-Frau-Symbiose aufzugehen.
„Autonomie in der Symbiose“ wäre für mich ein wünschenswerter Maxim in einer partnerschaftlichen Elternschaft.
Meine Therapeutin hat es einfacher formuliert: „Beziehung ist Verhandlungssache.“
Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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