Edition Humanistische Psychologie
Köln 1991
ISBN 3-926176-31-8
Dieses Buch habe ich vor einigen Jahren unter dem Titel "Psychotherapie nach Tschernobyl" geschrieben. Vom Verlag Edition Humanistische Psychologie habe ich freundlicherweise die Gelegenheit erhalten, es in einer Neuauflage herauszugeben. Ich bin dafür dankbar.
Was hat sich in diesen letzten Jahren seit der Katastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 ereignet? Im Weltgeschehen hat sich Hoffnungsvolles wie auch Furchtbares zugetragen. Das Ende des Kalten Krieges, das Zerbröckeln des Ostblocks, das Massaker auf dem Tien An Men-Platz, die deutsche Wiedervereinigung, der „Golfkrieg“ genannte Ölkrieg, weitere Umweltkatastrophen.
Eine der erstaunlichsten, zugleich auch quälendsten Tatsachen unseres heutigen Lebens ist das umfassende Informiertsein über alles, was sich in der Welt ereignet. Wir können nicht mehr flüchten vor den monströsen Dingen, die um uns herum geschehen, selbst wenn sie tausende von Kilometern entfernt sind. Durch unsere Medien bekommen wir sie hautnahe präsentiert. Die eindringlichen Bilder zwingen uns mitzuerleben, was Menschen, die wir sonst nie zu Gesicht bekommen hätten, an Naturkatastrophen, politischer Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeit erleiden. Sie werden tatsächlich zu unseren Schicksalsgenossen, ob wir es wollen oder nicht. Wir teilen die Schicksalsgemeinschaft auf dieser derart zusammengeschrumpften Erde. Wir brauchen uns dazu nur die Verbreitung von AIDS und das Ozonloch zu vergegenwärtigen. Es gibt keine Flucht aus dieser globalen Entwicklung.
Viele engagierte Freunde sind heute, einige Jahre nach Tschernobyl, resigniert und meinen pessimistisch, nach dem ersten Schrecken in den Wochen nach Tschernobyl habe sich alles wieder beruhigt, es laufe wieder alles normal wie bisher, die Katastrophe habe überhaupt nichts bewirkt, die meisten Menschen hätten sie verdrängt.
Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass diese Erfahrungen und Erlebnisse zwar in unser Unbewusstes und Vorbewusstes abgesunken sind, von dort aber weiterhin auf unser jetziges und zukünftiges Leben einwirken.
Warum meiden wir Therapeuten bestimmte Themen in der Therapie? Dies ist am häufigsten der Fall, wenn wir persönlich von einem Problem tief betroffen sind und die gleiche Hemmung spüren wie der Klient, dieses Problem anzupacken. In solchen Fällen reagieren wir genauso verwirrt wie der Klient. Und normalerweise ist es auch wichtig, dass wir erst einmal unsere eigenen Probleme bearbeitet haben (in Eigentherapie oder Supervision), bevor wir ähnlich gelagerte Probleme bei unseren Klienten ansprechen. Erst dann sind wir innerlich bereit, diese Probleme überhaupt als Themen in der Therapie zuzulassen.
Aber in diesem Fall, in dem es um die Bedrohung unserer Welt geht, kennen wir selbst als Therapeuten keinen Lösungsweg, ebenso wenig wie unsere Klienten und ebenso wenig wie unsere Supervisoren, wie kompetent und erfahren sie auch sein mögen.
Hierin liegt vielleicht ein fatales Grundmissverständnis über die Natur der Therapie. Ich glaube, sehr viele Therapeuten wie auch Klienten meinen, es gehe in der Therapie ausschließlich um die Bearbeitung persönlicher Probleme. Wir Therapeuten sind ja auch tatsächlich so geschult, dass wir alles, was der Klient vorbringt, auf seine individuelle Bedeutung hin analysieren. Es wird alles auf seine eigene Person zurückgeführt.
Viele Klienten befürchten also zu Recht, dass ihr Therapeut es als Ausdruck ihrer persönlichen Neurose betrachten würde, wenn wir über ihre Sorgen um die Welt sprechen würden. Ja, es kann sogar sein, dass der Therapeut das bloße Ansprechen solch allgemein politischer Themen gleich als Widerstand deutet, also als ein Ausweichen vor den „eigentlichen“ Problemen des Klienten. Wenn wir dies tun, dann haben wir wirklich, bewusst oder unbewusst, ein neues Tabu in der Therapie geschaffen.
Deshalb ist es gerade bei diesen politischen Fragen notwendig, dass ich als Therapeut den ersten Schritt mache. Dass ich einen Klienten auch nach seiner politischen Meinung über ein Problem frage, das er anspricht – genauso selbstverständlich, wie ich ihn nach seiner gefühlsmäßigen Reaktion auf dieses Problem frage. Und ich habe mehr als einmal die Erfahrung gemacht, dass die so angesprochenen Klienten dankbar den von mir angebotenen Faden aufnehmen und sehr persönliche, für mich oft überraschende oder unbekannte Aspekte eines politischen Problems darlegen. Sie sind oft erleichtert, dass sie auch darüber in der Therapie sprechen dürfen. Häufig ist das der erste Schritt, auch mit ihren Freunden und Familienangehörigen über die brennenden Fragen unserer Zeit zu sprechen.
Auf diese Weise habe ich durch meine Klienten einige politische Erkenntnisse gewonnen, die mich tief bewegt haben. Einige haben mir neue Anregungen gegeben, indem sie mir sagten, wie sie mit der Krise umgehen. Ich habe besonders viel von denen gelernt, die ein schweres politisches Schicksal durchgemacht haben. Ich habe auf diesem Wege beispielsweise viel über Kindheit und Jugend im Dritten Reich erfahren, über die Begeisterung in der Hitler-Jungend, aber auch über Flucht und Demütigung, über die persönlichen und familiären Aspekte des Faschismus. Auf der anderen Seite haben mir einige jüngere Klienten gezeigt, wie man radikal und eindeutig zivilen Ungehorsam praktiziert. Sie haben mir gezeigt, wo ich selbst politisch ängstlich oder uneindeutig bin.
An diesem Punkt geht es also nicht darum, dass ich als Therapeut mehr weiß als der Klient. Es geht nicht darum, dass ich Lösungen zu unseren brennenden Problemen liefere. Es genügt, wenn ich meine Betroffenheit und Verzweiflung auch in der Therapie zulasse und äußere und wenn der Klient dies ebenso tut.
Genau das ist es, was ich in meinen Therapien zu verwirklichen und in der Ausbildung von Gestalttherapeuten weiterzugeben versuche: dass es in der Therapie darum geht, uns auf das Menschliche einzulassen und dieses Menschliche – das, was uns bewegt – zu spüren, zu vertiefen und zu leben. Denn nur in der Begegnung und in der Resonanz durch ein anderes Lebewesen werden unsere Lebendigkeit, unsere Liebe und unsere Verzweiflung wachgerufen.
In diesem Teilen unserer Liebe und unserer Verzweiflung sehe ich den allerhöchsten politischen Wert der Psychotherapie ...
Wozu also Psychotherapie?
Psychotherapie ist eine Lebensschule.
Psychotherapie schärft unsere Sensibilität. Erhöhte Sensibilität bringt uns nicht mehr Glück, sondern hebt die Verdrängung auf. Wir spüren die Zerstörung unserer Umwelt, unserer Mitgeschöpfe und unserer eigenen psychischen und leiblichen Gesundheit schärfer, unverfälschter, schmerzlicher.
Mit Hilfe der Psychotherapie kommen wir der Selbst- und Umweltzerstörung auf den Grund: Das früher verletzte und missbrauchte Kind, das in uns weiterlebt, rächt sich, indem wir als Erwachsene die erfahrene Verletzung weitergeben. Missbrauch erzeugt Missbrauch. Gewalt wird so über die Generationen weiter „vererbt“. Sie erzeugt in uns einen Chaos, einen Teufelskreis aus Leidenschaft, Scham, Sucht und hilflosen Kontrollversuchen.
Durch Psychotherapie lernen wir jedoch auch unsere ursprünglichen, natürlichen Bedürfnisse wieder kennen, spüren unsere Lebendigkeit wieder. Wir lernen, das Leben wieder zu lieben. Auf dem Weg durchs Leiden und Lieben können wir einen neuen Sinn für unser Leben finden und damit den Weg aus der Selbst- und Umweltzerstörung.
Politisches Handeln erwächst aus persönlicher Betroffenheit, erhält daraus seine Triebfeder. Zugleich stärkt politisches Handeln unser Gefühl für unser Selbst und unseren Bezug zu unserer Umwelt. Deshalb lenkt uns Psychotherapie nicht weg vom politischen Engagement. Wir gehen aber womöglich einen anderen politischen Weg als zuvor.
Dabei werden wir lernen müssen, auf vielen verschiedenen Ebenen zu handeln. Das Leben in unserer Zeit ist sehr komplex und erfordert viel Flexibilität, Klugheit und Phantasie. Psychotherapie und Meditation können uns helfen, bei aller Vielfalt zentriert zu bleiben, und spirituelle Erfahrungen können uns Kraft und Richtung für das politische Handeln geben.
Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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