Die Kunst, erwachsen zu werden

von Victor Chu
Tredition-Verlag 2014

ISBN 978-3-8495-9511-1 (Paperback)
ISBN 978-3-8495-9512-8 (Hardcover)
ISBN 978-3-8495-9513-5 (e-Book)

Bin ich denn richtig erwachsen?

Kennen Sie auch dieses Gefühl? Sie sind schon lange erwachsen, haben vieles im Leben erreicht, sind geachtet und angesehen – und auf einmal beschleicht Sie das seltsame Gefühl, Sie seien gar nicht so erwachsen, wie Sie nach außen hin erscheinen.

Sie fühlen sich klein und unsicher, so, wie Sie sich einst als Kind gefühlt haben. Eine harmlose Bemerkung Ihres Vorgesetzten bringt Sie völlig aus der Fassung. In einem belanglosen Gespräch fangen Sie zu stottern an und werden rot wie früher als Teenager. Eine kleine Auseinandersetzung mit Ihrem Partner versetzt Sie in archaische Wut oder bodenlose Einsamkeit und Sie fühlen sich wie ein verlorenes Kind. Eine Begegnung mit einem Fremden lässt in Ihnen eine tiefe, längst vergessene Sehnsucht wie eine schmerzliche Wunde aufbrechen. Bei einem Streit mit Ihren Kindern bekommen Sie das entsetzliche Gefühl, genauso barsch und ungerecht zu handeln wie einst Ihre Eltern.

In solchen Momenten fühlen Sie sich alles andere als erwachsen und souverän. Nein, Sie kommen sich so hilflos und dumm vor wie in den schlimmsten Zeiten Ihrer Kindheit. Sie fühlen sich beziehungsunfähig, abgeschnitten von Ihrer Umwelt, können nicht mehr zu sich und Ihrer Meinung stehen. Und tief innen schämen Sie sich vor sich selbst.

Was passiert in solchen Situationen mit uns? Wieso geht unser Gefühl von Souveränität in diesen Zeiten verloren? Warum wird unser Selbstbewusstsein auf einmal so brüchig?

Zum Glück sind solche Momente der Selbstzweifel meist nicht von Dauer. Am nächsten Tag stellen wir erleichtert fest, dass wir wieder Boden unter den Füßen spüren. Manchmal geraten wir aber durch solche scheinbar belanglosen Situationen unversehens in eine richtige Lebenskrise. Wir erkennen plötzlich, dass wir in unserer persönlichen Entwicklung stecken geblieben sind: Wir sind beruflich nicht weitergekommen, während andere Karriere machen. Wir sind allein geblieben, während unsere Freunde und Freundinnen heiraten und Familien gründen. Wir kommen nicht los von unseren Eltern. Wir fühlen uns gefesselt von schlechten Gewohnheiten und Süchten. In unseren Beziehungen drehen wir uns ständig im Kreise.


Erwachsenwerden, ein langsamer Reifungsprozess

In solchen Momenten begreifen wir, dass das Erwachsenwerden gar nicht so einfach ist, wie wir es uns einst beim Erreichen der Volljährigkeit vorgestellt haben. Es ist eher ein allmählicher Reifungsprozess, der mit vielen Höhen und Tiefen verbunden ist. Wie auf einer Treppe gehen wir von einer Stufe zur nächsten, und manche Lebenskrisen weisen uns darauf hin, dass wir vielleicht mit etwas Früherem noch nicht fertig geworden sind. Dann müssen wir eben stehen bleiben und uns mit dem Unvollendeten befassen. So können Krisen auch eine Chance sein, uns weiterzuentwickeln. Wir kehren wieder zu uns selbst zurück, wir gehen in uns und spüren nach: Was brauche ich für meinen nächsten Schritt? Habe ich auf meinem bisherigen Weg etwas übersehen, was nun meineAufmerksamkeit fordert? Wohin ruft es mich?


Lebensfragen

So gesehen wirft die Frage »Bin ich denn richtig erwachsen?« ein Licht auf uns selbst. Sie beleuchtet, wie ein vielflächiger Spiegel, die unterschiedlichsten Seiten unseres Selbst. Sie macht uns aufmerksam auf wesentliche Bereiche unseres Lebens. Wenn wir genauer hinschauen, können wir möglicherweise folgende Lebensfragen entdecken:

  • Ich will erwachsen sein. Warum verhalte ich mich aber in bestimmten Situationen wie ein Kind? Will ich überhaupt erwachsen sein? Warum habe ich manchmal Angst vor dem Leben?
  • Ich bin schon längst volljährig. Aber warum fühle ich mich manchmal nicht meinem Alter entsprechend? Mal habe ich das Gefühl, viel jünger zu sein, als ich wirklich bin, mal fühle ich mich steinalt.
  • Ich möchte frei sein. Aber habe ich mich wirklich vom Elternhaus gelöst? Wieso fühle ich mich immer noch so abhängig von meinen Eltern? Warum kann ich ihre Nähe nicht ertragen? Warum fühle ich mich nicht frei, selbst wenn ich weit weg von ihnen lebe?
  • Einen Liebespartner zu finden wäre für mich das größte Glück. Warum klappt es aber bei mir mit der Liebe nicht? Wieso lebe ich nicht in einer guten und dauerhaften Partnerschaft?
  • Ich bemühe mich, meine Kinder anders zu erziehen, als meine Eltern es getan haben. Sie sollen es einmal besser haben. Warum habe ich aber manchmal das Gefühl, mit meinen Kindern die gleichen Fehler zu machen, wie ich sie von meinen Eltern her kenne?
  • Warum kann ich nicht richtig für mich sorgen? Warum vernachlässige ich mein Äußeres und Inneres? Warum behandle ich meinen Körper so stiefmütterlich? Warum kümmere ich mich nicht darum, dass ich gut und regelmäßig esse, dassich mich gepflegt kleide, dass ich ein gemütliches Zuhause habe?
  • Ich möchte das Leben genießen, ich möchte mit Lust und Leidenschaft leben. Was hindert mich daran, freudig und spontan aufs Leben zuzugehen?
  • Wenn es mir gut geht, strotze ich vor Energie. Aber das geschieht so selten. Wieso laufe ich auf halber Kraft?
  • Wieso bin ich so oft krank, obwohl mir die Ärzte sagen, ich hätte nichts?
  • Warum komme ich von schlechten Gewohnheiten und manchem Suchtverhalten nicht los, obwohl sie mich schon lange stören?
  • Ich möchte auf mich stolz sein können. Warum bin ich aber oft so unzufrieden mit mir selbst? Warum überfallen mich immer wieder Scham- und Schuldgefühle?
  • Ich möchte eine schöne und befriedigende Sexualität leben. Weshalb empfinde ich aber die Sexualität als etwas Lästiges, Schmutziges oder Erniedrigendes und nicht als Erfüllung? Was ist das überhaupt – sexuelle Erfüllung? Kann ich so etwas je für mich finden?
  • Warum gelingt es mir nicht, Freundschaften und andere soziale Beziehungen aufzubauen?
  • Warum schaffe ich es nicht, meine Ausbildung abzuschließen, obwohl ich nicht dumm bin?
  • Mein Beruf ist mir wichtig. Warum bin ich aber im Beruf so unzufrieden? Wieso komme ich nicht voran? Warum bekomme ich nicht die Anerkennung und den Lohn, den ich verdiene?
  • Ich bin nicht unbegabt und habe einige Talente und Fähigkeiten. Warum kann ich sie nicht voll ausschöpfen?
  • Ich möchte im Leben einiges, was mir wichtig ist, verwirklichen. Weshalb habe ich aber oft das Gefühl, auf der Stelle zu treten und nicht vorwärts zu kommen? Manchmal habe ich den Eindruck, mir selbst im Wege zu stehen.
  • Ich möchte wissen, was der Sinn meines Lebens ist. Wo ist mein Platz im Leben?
  • Ich möchte in Zufriedenheit alt werden. Warum habe ich aber so große Angst vor dem Älterwerden und dem Tod?

Sie werden gemerkt haben: Es sind ganz wesentliche Lebensfragen, die durch das Thema des Erwachsenwerdens berührt werden. Auch wenn Sie das Gefühl haben, Sie hätten keine Zeit, Sie wären im Alltag mit vielen anderen Dingen beschäftigt – es lohnt sich, ab und zu innezuhalten und sich die Zeit zu nehmen, sich Ihren Lebensfragen zu stellen, auch wenn es zunächst schwierig oder unbequem erscheinen mag.

Sie werden neue Einsichten in Ihr bisheriges Leben gewinnen. Sie werden mehr Kraft für Ihren weiteren Weg finden. Der Kontakt zu Ihrer Umwelt wird sich vertiefen und Ihre Beziehungen werden reicher werden. Und möglicherweise können Sie Ihrem Leben eine neue Richtung geben.

 

Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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