von Victor Chu
Tredition-Verlag 2014
ISBN 978-3-8495-9438-1 (Paperback)
ISBN 978-3-8495-9439-8 (Hardcover)
ISBN 978-3-8495-9440-4 (e-Book)
Sehnsucht - bei diesem Wort empfinden wir eine leise innere Erregung. Es ist eine innere Erregung, oft nicht einmal von außen sichtbar. Es ist, zumindest am Anfang, eine leise Erregung, wie von einer sanften Berührung.
Und obwohl sie leise beginnt, hat sie die Fähigkeit, uns in ihren Bann zu ziehen – vielleicht ist es gerade ihre Zartheit, die unsere Sinne so erregt. Unmerklich zieht es uns immer mehr dorthin, bis wir uns völlig von ihr besetzt fühlen. Ja, unsere Sehnsucht kann manchmal zu einer solch heftigen Leidenschaft heranwachsen, daß wir bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen, um ihrem Ruf zu folgen.
1. Sehnsucht beseelt uns. Sie berührt uns unmittelbar in der Tiefe unserer Seele. Sie erreicht ganz mühelos unser Innerstes.
Sehnsucht bewegt uns. Sie reißt uns aus der Lethargie, sie zerreißt den grauen Vorhang, der uns sonst von unseren inneren Gefühlen trennt. Sie reißt uns aus der Normalität des Alltags.
Wir sind ganz bei uns, wenn wir unsere Sehnsucht spüren. Die Zeiten der Sehnsucht sind besondere Momente im Leben. Wir spüren sie mit äußerster Intensität.
2. In dieser Intensität liegt ein ungeheueres Veränderungspotential. Es ist eine Kraft, die unser ganzes Leben verändern kann, wenn wir den Mut haben, ihr zu folgen. In der Sehnsucht finden wir die Quelle der Leidenschaft. Wir leben leidenschaftlich, wenn wir unserer Sehnsucht folgen. In der Erfüllung unserer Sehnsucht erfahren wir den Sinn unseres Lebens.
3. Sehnsucht ist auch Quelle unserer Inspiration. Sie erweckt unsere Kreativität zum Leben. Sie ist, neben der Neugierde, eine wesentliche Quelle für künstlerisches Schaffen. Wir erschaffen Neues, wenn wir von Sehnsucht beseelt sind. Und das, was wir in diesem Moment produzieren, sei es ein Gedicht, ein Lied, ein Gemälde, ein Roman, ist "beseelt", weil es Ausdruck unserer Seele ist. Der Betrachter des Bildes, der Hörer der Musik spürt den lebendigen Hauch, der aus dem Kunstwerk spricht. Auch er wird in seiner Seele berührt.
Den gleichen lebendigen Impuls gibt die Sehnsucht dem Philosophen, dem Politiker, dem Reformer. In der Sehnsucht steckt der Funke der Veränderung, auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich.
Dies ist das Wundervolle an der Sehnsucht. Deshalb ist die Sehnsucht ein großes Geschenk. Wir müssen sie nur ernstnehmen.
Aber weshalb hören wir so wenig auf ihre Stimme? Weshalb fühlen wir uns gar oft von ihr gestört? Weshalb haben wir, wenn wir ehrlich sind, sogar Angst vor ihr?
Um dies zu verstehen, müssen wir uns den Schattenseiten der Sehnsucht zuwenden. Wo Licht ist, ist auch Schatten.
4. Sehnsucht verbindet uns mit unserem Unbewußten, mit den untergründigen Strömungen unserer Seele. Hier sind unsere vitalen Triebe beheimatet. Deshalb erfüllt uns Sehnsucht bisweilen mit einer solchen Vitalität und einem inneren Feuer, daß wir das Gefühl haben, darin zu verbrennen.
Im Unbewußten sind auch unsere instinkthaften, animalischen Triebe zuhause. Diese Kräfte stehen jenseits von Moral und Vernunft. Als archaische, lebenserhaltende Kräfte sind sie lange vor unserem Gewissen entstanden. Sie gehorchen dem Gesetz des Alles oder Nichts. Abwägen ist ihnen fremd. Deshalb kann uns die Sehnsucht in Leidenschaften stürzen, die wir weder mit unserem Verstand noch mit unserer Moral zu bändigen vermögen.
5. Andererseits verbindet uns Sehnsucht mit Gott, mit der Transzendenz. Sie weist über unser individuelles, kleines Ich hinaus und verbindet uns mit etwas, das größer ist als wir. Die Sehnsucht nach Gott, nach Sinn, nach der Anbindung mit dem Unendlichen ist vielleicht die tiefste Empfindung, die wir zu spüren imstande sind.
Es ist doch erstaunlich, wie nahe die animalischen, die sogenannten 'niederen' Instinkte der göttlichen Erleuchtung sein können. Beides finden wir in unserer Sehnsucht vereint. Um ein religiöses Bild zu benutzen: In der Sehnsucht scheinen Gott und Teufel gleichermaßen zu wirken. Unsere Sehnsucht kann aus uns Verräter und Verbrecher machen, sie vermag uns auch zu Helden und Heiligen erheben.
6. Deshalb raubt uns Sehnsucht immer wieder den Schlaf. Sie stört uns im Alltag. Sehnsucht ist dysfunktional, sie erzeugt Reibung im alltäglichen Getriebe. Sehnsucht verunsichert uns, macht Angst. Sie löst in uns eine Verunsicherung aus, die wir nur schwer in Worte fassen können. Warum?
7. Sehnsucht hat mit unserem inneren Geheimnis zu tun. Wenn wir nach unserer Sehnsucht gefragt werden, werden wir leicht verlegen, wir geraten ins Stottern oder wenden uns errötend ab. Denn die Sehnsucht ist ein intimes Gefühl, etwas, was viel über uns und unser inneres Wesen aussagt. Deshalb ist sie normalerweise mit Scham belegt. Die Scham schützt unsere Sehnsucht vor dem Zugriff fremder, uneingeweihter Menschen. Wir teilen unsere Sehnsüchte nur mit Menschen, die uns vertraut sind, bei denen wir sicher sind, daß sie das intime Wissen über uns nicht mißbrauchen.
8. Sehnsucht ist ein einsames Gefühl, sie ist oft ein einseitiges Gefühl, das vom Sehnenden ausgeht und auf ein Ziel draußen ausgerichtet ist, ohne daß dieses auf ihn antwortet. Das Ziel kann eine andere Person sein (jemand, den wir lieben), ein Ort (die Ferne oder die Heimat), eine Tätigkeit (Abenteuer oder Frieden), ein innerer Zustand (Glück, Zufriedenheit, Lust), oder Gott sein. Aber immer ist das Ziel der Sehnsucht weit weg, es erscheint uns oft als unerreichbar. Es ist dort, wir sind hier. Das Objekt unserer Sehnsucht ist nie da, wo wir uns befinden. Ja, der Reiz der Sehnsucht scheint gerade in der Unerreichbarkeit ihres Zieles zu liegen, in der Nicht- Erfüllung, im beständigen Hungern nach dem, was uns fehlt.
Die Sehnsucht scheint sich selbst zu genügen. Noch mehr: Es ist, als hätte sie sich selbst zum Ziel. Ihr Ziel scheint die weitere Steigerung und Intensivierung der Sehnsucht zu sein, nicht deren Lösung! (Wir werden später im Kapitel Casablanca versuchen, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen.)
9. Nun spüren wir die ungeheure innere Spannung, die der Sehnsucht innewohnt. Diese extremen Gefühle sind auf die Dauer schwer zu ertragen. Deshalb neigen sehnsüchtige Menschen dazu, sich zu betäuben – mit Alkohol, mit Drogen, mit exzessivem Essen, Trinken, Hungern, Fernsehen, Sex oder Arbeiten. Sehnsüchtige sind suchtgefährdet. Die Endung "Sucht" ist ein wesentlicher Bestandteil der Sehnsucht.
10. Dabei sind sehnsüchtige und suchtgefährdete Menschen der Wahrheit oft näher als ihre normalen, durchschnittlichen Mitmenschen. Sie sehen die Welt oft klarer und schärfer. Sie spüren früher als andere, wo etwas nicht stimmt, wo Veränderung nottut. Nur: Sie besitzen nicht die Fähigkeit, ihre Vision in die Realität umzusetzen. Bei ihnen klaffen Vision und Realität zu weit auseinander. Sie können die Kluft nicht überbrücken und stürzen leicht hinein.
Wenn es ihnen gelingt, mehr Boden unter die Füße zu bekommen, wenn sie lernen, besser zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Du, zwischen Illusionärem und Realisierbarem zu unterscheiden, dann können sie einen wichtigen Beitrag für die menschliche Gemeinschaft leisten. Viele Pioniere und Revolutionäre in der Kunst, der Wissenschaft, der Politik und der Religion waren Menschen, die von der Sehnsucht nach Neuem und Unergründlichem erfüllt waren und den Mut hatten, ihre Vision in die Realität umzusetzen.
So gesehen, ist die Sehnsucht nicht nur ein 'privates' Gefühl, das wir verschämt für uns behalten sollten. Sie hat eine große Bedeutung für die menschliche Gemeinschaft. Dieses privateste aller Gefühle birgt in sich eine unheimliche Kraft, die, wenn unverstanden oder mißdeutet, einen Menschen (manchmal auch seine Umgebung) ins Unglück stürzen und zugrunde richten kann. Sie hat in sich aber auch das Potential, demselben Menschen und seiner Umgebung Glück und Erfüllung zu bringen, wenn sie verstanden, angenommen und in der Realität verankert wird.
Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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