Atommüll und Energieverschwendung: Was können wir dagegen tun?

Victor Chu
Vortrag am 22. Sept. 2011 in Ahaus
zur Ausstellung "25 Jahre Tschernobyl"


Veranstalter: Internationales Bildungs- und Begegnungswerk (www.ibb-d.de)

Vielen Dank für die Einladung.

Nach Fukushima hat die Bundesregierung – angestoßen durch die bundesweiten Anti-Atomproteste – endlich den Atomausstieg in zehn Jahren beschlossen. Aber was geschieht mit den weltweit über 400 anderen Kernkraftwerken? Was geschieht mit dem Atommüll, für den bis heute nirgendwo auf der Welt ein sicheres Endlager gefunden worden ist? Was geschieht mit dem Atommüll, der hier oberirdisch in Ahaus zwischenlagert?

Gibt es einen Weg aus der Angst vor dem Atommüll?

Ich finde hierfür keine einfache Antwort.
Vor allem finde ich keine Möglichkeit, Ihnen Ihre Angst vor dem Atommüll, der hier deponiert ist, zu nehmen. Ihre Angst ist berechtigt. Manchmal ist Angst notwendig, damit wir aufwachen.
Innerhalb von dreißig Jahren haben sich, neben vielen kleineren Zwischenfällen, drei große Atomunfälle in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima ereignet. Wieso setzen immer noch so viele Länder weiter auf die Kernenergie? Wieso geht die Welt immer noch so sorglos mit dieser gefährlichsten Energieform um, in der törichten Annahme, es wird schon nichts Schlimmes geschehen?

Dieser Frage möchte ich heute auf den Grund gehen. Wir müssen dabei über den Horizont der unmittelbaren Bedrohung schauen, um Antworten zu finden. Dann werden wir einen Zusammenhang zwischen dem Atommüll, der Ihnen vor der Haustür lagert, und der Art und Weise, wie wir heute leben, entdecken. Aus diesem Zusammenhang heraus können wir vielleicht Wege finden, wie wir aus der Sackgasse herauskommen.

Der Atommüll kommt aus unserem übersteigerten Bedarf nach Energie. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat man die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie entdeckt. Darin fand man angeblich eine Zauberformel, auf recht einfachem Wege den grenzenlosen Energiebedarf zu decken. Denn die kapitalistische Weltwirtschaft setzt auf grenzenloses wirtschaftliches Wachstum: je mehr wir produzieren und konsumieren, desto größer wird unser Wohlstand, desto besser geht es uns – so sagt man uns.

Damit hat sich aber unsere Wirtschaft von den menschlichen Grundbedürfnissen abgekoppelt: Wir arbeiten heute nicht mehr für die Erfüllung unserer elementaren materiellen Bedürfnisse wie des Bedürfnisses nach einem Dach über dem Kopf und genug zum Essen haben. Diese Grundbedürfnisse sind für den großen Teil der Bevölkerung in der westlichen Welt längst befriedigt. Nein, heute produzieren wir vorwiegend für den Überfluss – für Überflüssiges. Dafür werden immer neue, immer raffinierter verpackte Bedürfnisse geschaffen, für die weitere Waren produziert werden. Wir werden von der Werbung süchtig gemacht, um immer mehr zu kaufen und zu konsumieren.

Hierfür wird die Erde geplündert. Unsere Gier hier erzeugt den Hunger anderswo. In Somalia verhungern gerade Zehntausende – an der gleichen somalischen Küste lauern Piraten Frachtern auf. Es sind zumeist ehemalige Fischer, deren Fischgründe durch ausländische Fangflotten leergefischt worden sind – diese nutzten den Umstand aus, dass es keine Zentralregierung in Somalia gibt, die die Küste wirksam überwachen kann. Überdies wurde der Fischbestand vor der somalischen Küste durch die ebenfalls illegale Verklappung von Giftmüll dezimiert: 2002 wurden tausende tote Fische an die somalische Küste geschwemmt. Und wir haben keine bessere Antwort darauf, als Kriegsschiffe dorthin zu senden, um unsere Frachtschiffe zu schützen. Man bekämpft die Symptome, nicht die Ursachen.

Die Piraterie vor der somalischen Küste ist ein gutes Beispiel für die Auswirkung der Ausbeutung der Dritten Welt: Erst werden die Fischgründe leergefischt, dann Giftmüll ins Meer geschüttet – beides sind illegale kriminelle Handlungen. Und wenn die Menschen dort verzweifeln und sich wehren, werden sie militärisch verfolgt. Man kann diesen Vorgang durchaus als neokolonialistisch bezeichnen.

Wenn Menschen aus der Dritten Welt nach Europa strömen, weil sie nichts mehr zu essen haben, werden diese sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge an den Rändern Europas – auch mit Hilfe ehemaliger arabischer Diktaturen – gewaltsam aufgehalten: Festung Europa. Dabei verlassen die Flüchtlinge ihre Heimat, weil sie nichts mehr zu essen haben, weil ihr Land vergiftet und ausgedorrt ist, weil ihnen die Lebensgrundlage entzogen worden ist. Was würden Sie tun, wenn Ihnen das Land, das Sie seit Generationen bebauen, von ausländischen Konzernen aufgekauft wird, um Monokulturen für Biosprit anzulegen? Was würden Sie tun, wenn Sie arbeitslos werden und keine Hoffnung auf eine Zukunft für sich und Ihre Kinder mehr hätten? Manchal sollte mam sich in andere hineinversetzen, um sie zu besser zu verstehen.

Nicht umsonst sind die Nahrungsmittelpreise in den letzten beiden Jahren stark gestiegen. Da wir für Biotreibstoffe mehr bezahlen als Menschen in der Dritten Welt für Nahrungsmittel ausgeben können, wird ein immer größerer Teil der globalen Nahrungsmittelproduktion in die Erzeugung des lukrativeren Biosprits umgelenkt. Dies wird zu einer drastischen Verschärfung des Hungerproblems in der Dritten Welt und in der Folge zu einem deutlichen Anstieg der Migration führen.

Der Wohlstand, den wir hier verteidigen, ist gleichzeitig die Ursache für das Elend der Menschen dort.
Das Tragische ist aber, wir brauchen im Grunde die Art des Wohlstandes nicht, die wir heute genießen.  Jeder von uns könnte auf die Hälfte, wahrscheinlich mehr als die Hälfte dessen, was er konsumiert, verzichten, ohne dass er sehr darunter zu leiden hätte.

Es läuft gerade ein Film im Kino, der heißt: „Taste the Waste“ („Schmeckt den Abfall“). Das dazugehörende Buch heißt „Die Essensvernichter“. Darin wird gezeigt, wie die Hälfte unserer Lebensmittel im Müll landet.  Supermärkte müssen heute die ganze Warenpalette anbieten, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Und alles muss perfekt aussehen: Ein welkes Salatblatt, ein Riss in der Kartoffel oder eine Delle im Apfel, sofort wird die Ware aussortiert. Joghurtbecher werden schon zwei Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums entsorgt. Dies entspricht dem Wunsch der Konsumenten, unserem Wunsch, jederzeit über alles, wonach es uns gelüstet, verfügen zu können.
Was ist die Konsequenz aus dieser Anspruchshaltung?  Das, was nicht vom Kunden gekauft wird, wird vernichtet. 20% der Backwaren aus deutschen Bäckereien landen im Müll. Das sind jährlich 500.000 Tonnen Brot. Das Essen, das wir in Europa wegwerfen, würde zweimal reichen, um alle Hungernden der Welt zu ernähren.

Dazu kommt, dass wir Nahrungsmittel aus der Dritten Welt importieren: Orangen bekommen wir im Sommer, im Winter Erdbeeren. Unsere Rosen beziehen wir vorwiegend aus Afrika. Den dortigen Bauern, die Blumen und Nahrungsmittel für uns anbauen, fehlt die Anbaufläche für ihre eigene Ernährung. Aber selbst von diesen importierten Nahrungsmitteln landet ein Großteil bei uns im Müll.

Wer ist für diese furchtbare Verschwendung verantwortlich? Wir alle. Wir sind alle beteiligt an diesem System: Die Nahrungsmittelindustrie macht Milliardengewinne mit der Massenproduktion. Das Überangebot an Nahrungsmitteln und der daraus resultierende Müll sind eingeplant und in die Warenpreise einkalkuliert, die wir als Konsumenten zahlen.

Früher mahnten uns unsere Mütter, den Teller leer zu essen: „Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie dieses Essen bekämen.“ Ihr Appell war nicht ganz logisch – wie sollten unsere Tellerreste denn zu den afrikanischen Kindern gelangen? Doch es steckt ein wahrer Kern darin. Heutzutage kaufen wir unser Essen, z.B. den Weizen auf demselben Weltmarkt, auf dem auch die Entwicklungsländer kaufen. Würden wir weniger einkaufen und weniger wegwerfen, wären die Preise für Grundnahrungsmittel nicht so hoch – heute finden in der Dritten Welt Aufstände statt, weil die Getreidepreise so stark gestiegen sind. Würden wir weniger Fleisch konsumieren, müsste nicht ein Großteil der Welternte als Tiernahrung verfüttert wird.  Führen wir weniger Auto, müssten nicht landwirtschaftliche Flächen, die bisher dem Anbau von Nahrungsmitteln gedient haben, für die Herstellung von Biotreibstoff umgestellt werden.

Mit Energie gehen wir ähnlich verschwenderisch um wie mit Nahrungsmitteln.

Wieviel Energie braucht der Mensch eigentlich?

1985 hat der brasilianische Physiker José Goldemberg die Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang zwischen Energieverbrauch und Lebensqualität gibt. Ergebnis: Bis etwa 1.300 Watt pro Person steigt die Lebensqualität, oberhalb dieser Schwelle ist keine Steigerung mehr feststellbar. (Zum Vergleich: Der durchschnittliche Energieverbrauch auf der Erde beträgt doppelt so viel (2.500 Watt); ein durchschnittlicher Deutsche verbraucht viermal so viel Energie (5.500 Watt).)

Es geht heute daher nicht mehr um Mehr, sondern Weniger: am Verbrauch von Energie, am Verbrauch von Ressourcen – wir haben nur diese eine Erde. Man hat berechnet, dass wir mittlerweise zweieinhalb Erden bräuchten, um unseren Rohstoff- und Energiehunger zu stillen.

Das Wachstum der Wirtschaft hat sich von einer Wohltat zum Grundübel unserer Zeit verwandelt. Eine bekannte Weissagung der Cree-Indianer lautet: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“

Dies sehen wir überdeutlich an der Kernenergie: Die Risiken der Kernkraft und ihrer Abfallprodukte bedrohen die Menschheit auf tausende von Generationen.

Wenn die stärksten radioaktiven Abfälle eine Halbwertszeit von 500.000 Jahren haben, sind 20.000 Menschengenerationen notwendig, die über unsere Endlager wachen müssen, bis die Hälfte ihrer tödlichen Strahlung abgeklungen ist. 20.000 Generationen? Es sind gerade 5000 Jahre vergangen, seit die uns bekannte menschliche Kultur existiert. Das sind gerade 200 Generationen. Woher nehmen wir das Recht, von 20.000 künftigen Generationen zu verlangen, dass sie unseren radioaktiven Müll hüten, den wir in den letzten 50 Jahren, das heißt binnen zwei Generationen erzeugt haben? Der Preis, den wir langfristig dafür zahlen und zahlen werden, übersteigt deren kurzfristigen Nutzen. Dass wir sie heute auch nicht wirklich benötigen, zeigt der jüngst beschlossene deutsche Atomausstieg: Wir sind imstande, innerhalb von 10 Jahren ganz auf diese gefährlichste Form der Energiegewinnung verzichten zu können. 

Es ist eine Mär, dass unser Wohlergehen vom wirtschaftlichen Wachstum abhängt. Heute geht es um das Zurückfahren unserer maßlos gewordenen materiellen Bedürfnisse. Die Erde, das Ökosystem, die Zunahme der Weltbevölkerung zwingt uns, innezuhalten und bescheidener zu werden. Seit der industriellen Revolution vor 200 Jahren ist die Weltbevölkerung von einer auf 7 Milliarden Menschen gewachsen. Wenn wir mit einem Energieverbrauch von 1.300 Watt pro Person zufrieden sein können, wozu mehr beanspruchen?
Dies ist eigentlich eine ganz einfache, rationale Überlegung. Wieso schaffen wir es nicht, sie real umzusetzen? Weshalb steuern wir sehenden Auges der Katastrophe zu?

Sucht
Dies liegt daran, dass wir der materiellen Sucht anheimgefallen sind. Wir leben in einer süchtigen Gesellschaft. Sucht oder Abhängigkeit wird medizinisch durch folgende Merkmale definiert:  Der Süchtige verspürt

  • Ein unstillbares Verlangen nach einer Substanz oder einer angenehmen Erfahrung,
  • Dieses Verlangen kann nicht rational kontrolliert werden,
  • Die Befriedigung, die man dabei erlangt, flacht ab, so dass man immer mehr von der Substanz nehmen muss (Toleranzsteigerung), und schließlich
  • Das Absetzen der Einnahme der Substanz verursacht schwere körperliche und psychische Entzugserscheinungen.
  • Unser grenzenloses Verlangen nach immer mehr Konsum, nach immer stärkeren Reizen, nach immer mehr wirtschaftlichem Wachstum erfüllt diese Kriterien einer Sucht.

Wir kennen heute sowohl substanzgebundene Süchte wie Alkohol- und Drogensucht als auch nicht substanzgebundene suchtartige Verhaltensweisen wie Spielsucht, Sexsucht, Arbeitssucht, Kaufsucht, Esssucht, Internetsucht, Sportsucht. Es können alle Erlebnisse, die uns ein angenehmes Gefühl bringen, zur Sucht werden. Suchtartiges Verhalten ist meistens ein Zeichen für ein inneres Unerfüllt-Sein. Süchte bieten im Grund nur Ersatzbefriedigung – sie stillen nicht wirklich unseren inneren Hunger: unser Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Anerkennung, unser Bedürfnis nach Sinn. Und da sie nur Ersatz sind, können sie uns nie sättigen: Sie lassen uns unbefriedigt und leer zurück, und sie verlangen nach immer mehr.

Die meisten der oben genannten Süchte werden heute als krankhaft angesehen und behandelt. Nur das grenzenlose wirtschaftliche Wachstum wird immer noch als leuchtendes Ziel für die ganze Welt angesehen. Als Ideologie breitet es sich wie eine Epidemie aus. Sie hat Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien längst erfasst – Länder mit Milliarden zukünftiger Konsumenten und Produzenten. Immer mehr Menschen und Völker fallen somit der ökonomischen Sucht anheim. Selbst drei Crashs innerhalb eines Jahrzehnts – wir stecken im Moment gerade in einem – können diesen Wahn nach Mehr nicht stoppen.

Dies ist zutiefst beunruhigend. Das macht Angst – damit kommen wir an den Anfang unseres Themas.
Wie können wir unsere Angst überwinden?


Konkrete Schritte aus der Angst

  1. Mutig der Angst standhalten: Nicht weglaufen, nicht die Augen verschließen, sondern uns der Angst stellen. Das heißt, mitten in unsere Angst hineingehen, wie in ein unbekanntes Land, ein unbekanntes Terrain, das wir auskundschaften. Was macht uns Angst? Wovor fürchten wir uns? Was kann passieren, wenn das eintrifft, wovor wir Angst haben?
    Uns unserer Angst stellen, verlangt Mut. Mutig zu sein, uns gefasst der Angst entgegenstellen – dies ist schon der erste und wichtigste Schritt  zur Überwindung der Angst. Denn Mut ist das Gegenteil von Angst.
  2. Die Quelle der Angst finden: Wenn die erste Welle der Angst überwunden ist, können wir nüchterner analysieren: Was ist die Ursache für die Angst? Wo liegen ihre Wurzeln? Es ist wie bei Zahnschmerzen: statt uns abzulenken müssen wir dem Schmerz an die Wurzel gehen, um dessen Quelle zu beseitigen.
    (Ich bin vorhin der Frage nachgegangen, weshalb wir so viel Müll und Atommüll produzieren. Dahinter liegt unsere Gier, die uns suchtartig in ihren Fesseln hält.)
  3. Die Quelle der Angst beseitigen: Diese Quelle gilt es zu beseitigen. Den Zahnschmerz haben wir vielleicht anfangs versucht, durch einen Eisbeutel zu lindern. Irgendwann nutzt es nicht mehr: Die faule Stelle muss heraus. Die Symptome aus dem Weg zu räumen nutzt irgendwann nicht mehr – etwa das Hin- und Herverschieben des Atommülls. Wir müssen die Kernkraftwerke stilllegen. Wir müssen unseren Energiehunger zügeln. Wir müssen auf mehr Energieverbrauch verzichten. Es geht um eine Grundsanierung.
  4. Uns unseren Süchten stellen: Dies ist wohl der schwerste Schritt in Richtung Gesundung. Wir sind es gewohnt, uns über das Unrecht, das uns geschieht zu beklagen. Aber zu erkennen, dass wir es selber sind, die zu der gegenwärtigen Weltlage beitragen, ist schwer. Dies verlangt Mut zur Ehrlichkeit.
    Bisher hat kaum ein Politiker es gewagt, die Ideologie des wirtschaftlichen Wachstums in Frage zu stellen. Dabei ist der Wähler klüger als die Politik es gemeinhin glaubt. Dies sehen wir z.B. bei den letzten Wahlen, in denen die FDP mit ihrem Eintreten für eine hemmungslose Marktwirtschaft abgestürzt ist und die Grünen große Erfolge erzielten.
    Mit oder ohne die Politik müssen wir lernen zu verzichten. Verzichten ist schwer: uns in unserem Konsum einzuschränken, auf liebgewonnene Gewohnheiten und Bequemlichkeiten zu verzichten – „man gönnt sich ja sonst nichts!“. Man gewöhnt sich nämlich ganz schnell an die Annehmlichkeiten des Alltags. Wir gewöhnen uns daran, dass uns zu jeder Jahreszeit exotische Früchte zur Verfügung stehen, dass jeden Tag Fleisch auf dem Tisch steht, dass der Computer jederzeit im Standby und das Auto vor der Haustür bereitsteht. Darauf bewusst zu verzichten bedarf nicht nur eines klaren Entschlusses, sondern auch langfristiger Widerstandskraft gegen die kleinen Versuchungen des Alltags. Ich habe vorhin auf den Suchtcharakter unseres Konsumverhaltens hingewiesen. Eine Sucht zu überwinden ist nicht einfach – das weiß jeder Raucher, das weiß jeder, der Essprobleme hat.
  5. Aus der Passivität in die Aktivität: Angst lähmt. Daher müssen wir aus der ängstlichen Passivität in die Aktivität gehen. Aus der Verhaltensforschung wissen wir: es gibt drei biologische Reaktionen auf eine Bedrohung: sich Totstellen, Flüchten oder Angreifen. Sich Totstellen nutzt etwas, wenn die Bedrohung, etwa ein gefährliches Raubtier, uns nicht bemerkt und vorbeigeht. Das nutzt in unserem Fall nichts – der Atommüll bleibt. Flüchten nutzt vielleicht für den Moment: Man bringt sich erst einmal in sichere Entfernung von der strahlenden Quelle. Aber eine atomare Katastrophe trifft uns weltweit. Das haben Tschernobyl und Fukushima gezeigt. Wir sind nirgendwo vor den Folgen einer Reaktorkatastrophe sicher. Also bleibt nur die letzte Reaktion: Kämpfen.
  6. Konstruktives statt Destruktives tun: Wenn wir kämpfen, können wir destruktiv oder konstruktiv vorgehen. Wenn wir nur kritisieren, wenn wir, wie einst die RAF, uns darauf versteifen, „kaputtzumachen, was uns kaputtmacht“, gibt es am Ende nur Opfer auf beiden Seiten. Die begrenzte Wirkung von Gewalt und Gegengewalt zeigt uns der fruchtlose Feldzug des Westens gegen die Al Qaida in Afghanistan und Irak. Das darauf Losschlagen auf Wildwestmanier bringt einen schnellen scheinbaren Sieg, dann einen zermürbenden Grabenkrieg.
    Terror lässt sich letztlich nicht mit Gegenterror besiegen. Der heutige Terrorismus kann nur dauerhaft überwunden werden, wenn wir in Kontakt mit der Gegenseite treten und ihre Motive verstehen, wenn wir die ungerechte Verteilung des Reichtums rückgängig machen und eine gerechte Wirtschaftsordnung etablieren. Dies wären konstruktive Fortschritte statt destruktives Draufhauen.
  7. Solidarisch handeln: Angst ist etwas Einsames. Erinnern wir uns an unsere frühen kindlichen Ängste: Wenn wir Angst vor der Dunkelheit hatten, brauchten wir Trost und Geborgenheit bei den Eltern. Oder wir taten uns mit unseren Geschwistern zusammen. Gemeinsam lässt sich eine bedrohliche Situation besser aushalten.
    Wenn ich mich aus meiner Isolation begebe, begegne ich Menschen, denen es ähnlich geht und das Ihre tun, um ihr Leben und das Leben anderer zu erleichtern. Menschen, die nach einem einfacheren, besseren Leben suchen. Menschen, die über ihre engen Grenzen hinweg Solidarität mit anderen leben. Menschen, die sich Utopien zutrauen.
    Wenn ich mich zu ihnen geselle, vergeht meine Angst. Ich fühle mich verstanden und aufgehoben. Und ich erfahre Ermutigung, weiterzumachen.
  8. Anderen helfen: Dies ist eine der wirksamsten Mittel gegen die Angst. Indem wir anderen, denen es vielleicht schlechter geht als uns, helfen, kommen wir aus der ängstlichen Passivität heraus. Wenn wir anderen helfen, fühlen wir uns stark. Außerdem kommen wir automatisch aus unserer Isolation. Es ist oft leichter, einem anderen aus der Patsche zu helfen, als uns selbst aus einer misslichen Situation zu befreien. (Dabei müssen wir uns natürlich davor hüten, unsere Schwierigkeiten in den Anderen zu projizieren ☺  - wir müssen schon zu unseren eigenen Problemen stehen und diese zu lösen versuchen, statt uns auf die Probleme anderer zu stürzen.)
  9. Andere um Hilfe bitten: Auch dies ist ein wichtiger Schritt: dass wir andere bitten, uns zu helfen, wenn wir selbst nicht mehr weiterwissen. Andere um Hilfe zu bitten heißt natürlich auch: demütiger und bescheidener zu werden. Zu wissen, dass wir nicht alles allein machen können, dass wir auch nicht alles allein machen müssen. Andere Menschen zu brauchen bringt uns zurück in die menschliche Gemeinschaft. Wir fühlen uns geborgen – auch dies ist ein wesentliches Gegenmittel gegen die Angst.
  10. Zu sich selbst kommen: Auf suchtartige Ersatzbefriedigungen zu verzichten lässt sich nur verwirklichen, wenn wir zu unserer eigenen Kraftquelle kommen. Ein junger alkoholabhängiger Klient von mir hat mir nach einem Kliniksaufenthalt gesagt: er ziehe in eine andere Stadt und fange ganz neu von vorne an. Er werde täglich seine Atemübungen machen. Damit meinte er die Meditation, die er in der Klinik gelernt hat. Meditieren ist im Grunde einfach: bewusst atmen, zu sich selbst kommen. Zu fühlen, wie es mir im Augenblick geht. Wenn ich ganz bei mir bin, weiß ich, was ich brauche und nicht brauche. Ich handele dann aus meinem Selbst heraus, statt aus einem vagen Bedürfnis nach irgendetwas zu suchen, was meinen inneren Hunger betäubt. Manchmal entdecke ich Gefühle und Empfindungen in mir, die nicht so angenehm sind: Wut, Schmerz, Angst, Sehnsucht. Aber wenn ich ihnen nachgehe, komme ich dahinter, was mir fehlt, was mir gut tut. Ich weiß mehr, wohin ich will.
  11. Sinn finden: Dann beginne ich, mein Leben selbst zu gestalten. Das Leben gewinnt an Farbe, an Stärke, an Kraft. Ich bin dann nicht mehr Sklave meiner Leidenschaften, den Launen des Augenblicks oder den Verlockungen der Werbung ausgeliefert. Ich gewinne wieder Macht über mich selbst. Eigenmacht und Eigenverantwortung gehören zu den wirksamsten Gegenmitteln von Angst. Wenn wir Angst haben, fühlen wir uns ausgeliefert, wir fühlen uns ohnmächtig. Unser Leben selbst in die Hand zu nehmen nimmt uns die Angst.
  12. Halt finden in der Natur: Die Natur ist eine der stärksten Kraftquellen. Jeder von uns kennt die besänftigende und beruhigende Wirkung der Natur. Kinder, die unter schlimmen Bedingungen aufwachsen müssen, finden ihren Trost im Wald, mit Pflanzen und Tieren. Einsamen alten Menschen tut ein Haustier gut. In China gehen viele Menschen morgens in einen Park, um Tai Chi zu machen. Die Natur ist eine unerschöpfliche Kraftquelle.
  13. Spirituellen Halt finden: Von der Natur ist es nicht weit bis zur Spiritualität. In der Natur sein ist im Grunde schon eine spirituelle Erfahrung. Wir verbinden uns mit etwas Größerem, etwas, was unser tägliches Bewusstsein transzendiert. Trost und Zuversicht erfahren wir auch im Gebet und in der Meditation. Wir erfahren, dass es etwas Anderes gibt als das, was wir tagtäglich erleben. Dies ist eigentlich etwas ganz Natürliches: Als Kinder hatten viele von uns einen natürlichen Zugang zu solchen Erfahrungen. Im Laufe des Erwachsenwerdens verlieren wir ihn oft, weil die Schule und das moderne Leben die Rationalität überbetont. Wir können den Weg dorthin wiederfinden. Spirituelle Verwurzelung ist wohl die stärkste Kraftquelle gegen die Angst.
  14. Katastrophen betrauern, die Lehren aus ihnen ziehen und weitergehen: Wenn wir Bilder wie hier in der Ausstellung über die Verwüstung und die Opfer der Reaktorkatastrophe sehen, sind wir bestürzt. Wir erkennen, was unser Größenwahn anrichten kann. Diese Erkenntnis kann uns reinigen und uns auf einen besseren Weg bringen. Katastrophen wie Tschernobyl und Fukushima müssen betrauert werden. Wir müssen die Toten begraben und den überlebenden Opfern beistehen. Sören Kierkegaard hat einmal gesagt: „Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts.“ Wir können das, was passiert ist, im Angedenken behalten, die Lehren daraus ziehen und dafür sorgen, dass künftig solche menschengemachte Katastrophen nicht mehr geschehen.

Jedes Leid hat ein Ende – wenn es genügend betrauert ist, müssen wir aufstehen und weitergehen.


Vor einem halben Jahr habe ich, nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima, eine innere Reise gemacht. Ich bin in einem Seminar, in dem es um die Heilung von Traumata ging, meinen inneren Bildern gefolgt, die die Atomkatastrophe in mir hervorbrachten.  Diese Bilder haben mir gezeigt, dass wir einer Katastrophe zusteuern, die nicht nur durch die Atomkraft, sondern durch unsere gesamte Lebensweise verursacht wird. Ich glaube, die Katastrophe lässt sich nicht mehr aufhalten.  Jedes Mal, wenn ich hinspüre, sehe ich den Untergang der Menschheit. Einen Trost habe ich: dass sich die Natur erholen wird. Auch ohne Menschen.
Wenn ich diesem inneren Weg folge, vergeht meine Angst. Sie weicht einer Wehmut. Sie gibt Raum für mehr Gelassenheit. Ich kann sehen, wie schön die Welt ist. Ich schöpfe Kraft aus der Meditation und der Begegnung mit Menschen, mit denen ich an einer besseren Welt arbeiten kann.

Auf der Webseite „Ökosystem-Erde.de“ fand ich folgendes Zitat:
„Was macht Menschen wirklich glücklich? Der materielle Reichtum durch die industrielle Revolution hat die Menschen nicht glücklicher gemacht. Heute wissen wir: zum Glück trägt die Herstellung von Gütern nur bei, solange sie der Grundversorgung dienen. Ist diese gesichert, werden andere Bedürfnisse wie gute soziale Beziehungen wichtiger  - die aber durch das Wirtschaftswachstum gefährdet werden. Das Ende des Wirtschaftswachstums kann also eine Chance sein, glücklicher zu werden.“

Abraham Maslow, einer der Begründer der Humanistischen Psychologie, hat bereits in den 1950er Jahren gesagt: Menschliche Bedürfnisse bauen sich pyramidenhaft auf: Zuunterst sind die materiellen Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen. Fast genauso wichtig sind die sozialen Bedürfnisse – nach Liebe, Akzeptanz, Geborgenheit. Zuoberst kommen die höheren menschlichen Bedürfnisse: Nach Schönheit, Kreativität, Spiritualität und Lebenssinn.
Wir erleben heute, wie diese Bedürfnishierarchie umgedreht wird: Diejenigen, die am reichsten sind, sind keineswegs glücklich. Sie haben Angst, sind einsam, sie brennen aus – Panikattacken, Depression und Burnout gehören zu den häufigsten psychischen Störungen in der westlichen Welt. Wir leiden, wie man sagt, „auf hohem Niveau“. Paradoxerweise fällt es Menschen in Afrika leichter, glücklich zu sein, obwohl sie nicht viel, manchmal nichts haben.  Dies sollte uns zum Denken geben.

Wir können daher nicht von Angst sprechen, ohne über das Glück nachzusinnen.
Diesen Vortrag möchte ich mit einem Wort aus dem Neuen Testament beenden: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2 Timotheus 1, Vers 4)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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