Victor Chu
Vortrag am 22. Sept. 2011 in Ahaus
zur Ausstellung "25 Jahre Tschernobyl"
Veranstalter: Internationales Bildungs- und Begegnungswerk (www.ibb-d.de)
Nach Fukushima hat die Bundesregierung – angestoßen durch die bundesweiten Anti-Atomproteste – endlich den Atomausstieg in zehn Jahren beschlossen. Aber was geschieht mit den weltweit über 400
anderen Kernkraftwerken? Was geschieht mit dem Atommüll, für den bis heute nirgendwo auf der Welt ein sicheres Endlager gefunden worden ist? Was geschieht mit dem Atommüll, der hier oberirdisch
in Ahaus zwischenlagert?
Gibt es einen Weg aus der Angst vor dem Atommüll?
Ich finde hierfür keine einfache Antwort.
Vor allem finde ich keine Möglichkeit, Ihnen Ihre Angst vor dem Atommüll, der hier deponiert ist, zu nehmen. Ihre Angst ist berechtigt. Manchmal ist Angst notwendig, damit wir aufwachen.
Innerhalb von dreißig Jahren haben sich, neben vielen kleineren Zwischenfällen, drei große Atomunfälle in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima ereignet. Wieso setzen immer noch so viele Länder
weiter auf die Kernenergie? Wieso geht die Welt immer noch so sorglos mit dieser gefährlichsten Energieform um, in der törichten Annahme, es wird schon nichts Schlimmes geschehen?
Dieser Frage möchte ich heute auf den Grund gehen. Wir müssen dabei über den Horizont der unmittelbaren Bedrohung schauen, um Antworten zu finden. Dann werden wir einen Zusammenhang zwischen dem
Atommüll, der Ihnen vor der Haustür lagert, und der Art und Weise, wie wir heute leben, entdecken. Aus diesem Zusammenhang heraus können wir vielleicht Wege finden, wie wir aus der Sackgasse
herauskommen.
Der Atommüll kommt aus unserem übersteigerten Bedarf nach Energie. In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat man die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie entdeckt. Darin fand
man angeblich eine Zauberformel, auf recht einfachem Wege den grenzenlosen Energiebedarf zu decken. Denn die kapitalistische Weltwirtschaft setzt auf grenzenloses wirtschaftliches Wachstum: je
mehr wir produzieren und konsumieren, desto größer wird unser Wohlstand, desto besser geht es uns – so sagt man uns.
Damit hat sich aber unsere Wirtschaft von den menschlichen Grundbedürfnissen abgekoppelt: Wir arbeiten heute nicht mehr für die Erfüllung unserer elementaren materiellen Bedürfnisse wie des
Bedürfnisses nach einem Dach über dem Kopf und genug zum Essen haben. Diese Grundbedürfnisse sind für den großen Teil der Bevölkerung in der westlichen Welt längst befriedigt. Nein, heute
produzieren wir vorwiegend für den Überfluss – für Überflüssiges. Dafür werden immer neue, immer raffinierter verpackte Bedürfnisse geschaffen, für die weitere Waren produziert werden. Wir werden
von der Werbung süchtig gemacht, um immer mehr zu kaufen und zu konsumieren.
Hierfür wird die Erde geplündert. Unsere Gier hier erzeugt den Hunger anderswo. In Somalia verhungern gerade Zehntausende – an der gleichen somalischen Küste lauern Piraten Frachtern auf. Es sind
zumeist ehemalige Fischer, deren Fischgründe durch ausländische Fangflotten leergefischt worden sind – diese nutzten den Umstand aus, dass es keine Zentralregierung in Somalia gibt, die die Küste
wirksam überwachen kann. Überdies wurde der Fischbestand vor der somalischen Küste durch die ebenfalls illegale Verklappung von Giftmüll dezimiert: 2002 wurden tausende tote Fische an die
somalische Küste geschwemmt. Und wir haben keine bessere Antwort darauf, als Kriegsschiffe dorthin zu senden, um unsere Frachtschiffe zu schützen. Man bekämpft die Symptome, nicht die
Ursachen.
Die Piraterie vor der somalischen Küste ist ein gutes Beispiel für die Auswirkung der Ausbeutung der Dritten Welt: Erst werden die Fischgründe leergefischt, dann Giftmüll ins Meer geschüttet –
beides sind illegale kriminelle Handlungen. Und wenn die Menschen dort verzweifeln und sich wehren, werden sie militärisch verfolgt. Man kann diesen Vorgang durchaus als neokolonialistisch
bezeichnen.
Wenn Menschen aus der Dritten Welt nach Europa strömen, weil sie nichts mehr zu essen haben, werden diese sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge an den Rändern Europas – auch mit Hilfe ehemaliger
arabischer Diktaturen – gewaltsam aufgehalten: Festung Europa. Dabei verlassen die Flüchtlinge ihre Heimat, weil sie nichts mehr zu essen haben, weil ihr Land vergiftet und ausgedorrt ist, weil
ihnen die Lebensgrundlage entzogen worden ist. Was würden Sie tun, wenn Ihnen das Land, das Sie seit Generationen bebauen, von ausländischen Konzernen aufgekauft wird, um Monokulturen für
Biosprit anzulegen? Was würden Sie tun, wenn Sie arbeitslos werden und keine Hoffnung auf eine Zukunft für sich und Ihre Kinder mehr hätten? Manchal sollte mam sich in andere hineinversetzen, um
sie zu besser zu verstehen.
Nicht umsonst sind die Nahrungsmittelpreise in den letzten beiden Jahren stark gestiegen. Da wir für Biotreibstoffe mehr bezahlen als Menschen in der Dritten Welt für Nahrungsmittel ausgeben
können, wird ein immer größerer Teil der globalen Nahrungsmittelproduktion in die Erzeugung des lukrativeren Biosprits umgelenkt. Dies wird zu einer drastischen Verschärfung des Hungerproblems in
der Dritten Welt und in der Folge zu einem deutlichen Anstieg der Migration führen.
Der Wohlstand, den wir hier verteidigen, ist gleichzeitig die Ursache für das Elend der Menschen dort.
Das Tragische ist aber, wir brauchen im Grunde die Art des Wohlstandes nicht, die wir heute genießen. Jeder von uns könnte auf die Hälfte, wahrscheinlich mehr als die Hälfte dessen, was er
konsumiert, verzichten, ohne dass er sehr darunter zu leiden hätte.
Es läuft gerade ein Film im Kino, der heißt: „Taste the Waste“ („Schmeckt den Abfall“). Das dazugehörende Buch heißt „Die Essensvernichter“. Darin wird gezeigt, wie die Hälfte unserer
Lebensmittel im Müll landet. Supermärkte müssen heute die ganze Warenpalette anbieten, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Und alles muss perfekt aussehen: Ein welkes Salatblatt, ein Riss in
der Kartoffel oder eine Delle im Apfel, sofort wird die Ware aussortiert. Joghurtbecher werden schon zwei Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums entsorgt. Dies entspricht dem Wunsch der
Konsumenten, unserem Wunsch, jederzeit über alles, wonach es uns gelüstet, verfügen zu können.
Was ist die Konsequenz aus dieser Anspruchshaltung? Das, was nicht vom Kunden gekauft wird, wird vernichtet. 20% der Backwaren aus deutschen Bäckereien landen im Müll. Das sind jährlich
500.000 Tonnen Brot. Das Essen, das wir in Europa wegwerfen, würde zweimal reichen, um alle Hungernden der Welt zu ernähren.
Dazu kommt, dass wir Nahrungsmittel aus der Dritten Welt importieren: Orangen bekommen wir im Sommer, im Winter Erdbeeren. Unsere Rosen beziehen wir vorwiegend aus Afrika. Den dortigen Bauern,
die Blumen und Nahrungsmittel für uns anbauen, fehlt die Anbaufläche für ihre eigene Ernährung. Aber selbst von diesen importierten Nahrungsmitteln landet ein Großteil bei uns im Müll.
Wer ist für diese furchtbare Verschwendung verantwortlich? Wir alle. Wir sind alle beteiligt an diesem System: Die Nahrungsmittelindustrie macht Milliardengewinne mit der Massenproduktion. Das
Überangebot an Nahrungsmitteln und der daraus resultierende Müll sind eingeplant und in die Warenpreise einkalkuliert, die wir als Konsumenten zahlen.
Früher mahnten uns unsere Mütter, den Teller leer zu essen: „Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie dieses Essen bekämen.“ Ihr Appell war nicht ganz logisch – wie sollten unsere Tellerreste
denn zu den afrikanischen Kindern gelangen? Doch es steckt ein wahrer Kern darin. Heutzutage kaufen wir unser Essen, z.B. den Weizen auf demselben Weltmarkt, auf dem auch die Entwicklungsländer
kaufen. Würden wir weniger einkaufen und weniger wegwerfen, wären die Preise für Grundnahrungsmittel nicht so hoch – heute finden in der Dritten Welt Aufstände statt, weil die Getreidepreise so
stark gestiegen sind. Würden wir weniger Fleisch konsumieren, müsste nicht ein Großteil der Welternte als Tiernahrung verfüttert wird. Führen wir weniger Auto, müssten nicht
landwirtschaftliche Flächen, die bisher dem Anbau von Nahrungsmitteln gedient haben, für die Herstellung von Biotreibstoff umgestellt werden.
Mit Energie gehen wir ähnlich verschwenderisch um wie mit Nahrungsmitteln.
Wieviel Energie braucht der Mensch eigentlich?
1985 hat der brasilianische Physiker José Goldemberg die Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang zwischen Energieverbrauch und Lebensqualität gibt. Ergebnis: Bis etwa 1.300 Watt pro Person
steigt die Lebensqualität, oberhalb dieser Schwelle ist keine Steigerung mehr feststellbar. (Zum Vergleich: Der durchschnittliche Energieverbrauch auf der Erde beträgt doppelt so viel (2.500
Watt); ein durchschnittlicher Deutsche verbraucht viermal so viel Energie (5.500 Watt).)
Es geht heute daher nicht mehr um Mehr, sondern Weniger: am Verbrauch von Energie, am Verbrauch von Ressourcen – wir haben nur diese eine Erde. Man hat berechnet, dass wir mittlerweise
zweieinhalb Erden bräuchten, um unseren Rohstoff- und Energiehunger zu stillen.
Das Wachstum der Wirtschaft hat sich von einer Wohltat zum Grundübel unserer Zeit verwandelt. Eine bekannte Weissagung der Cree-Indianer lautet: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte
Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“
Dies sehen wir überdeutlich an der Kernenergie: Die Risiken der Kernkraft und ihrer Abfallprodukte bedrohen die Menschheit auf tausende von Generationen.
Wenn die stärksten radioaktiven Abfälle eine Halbwertszeit von 500.000 Jahren haben, sind 20.000 Menschengenerationen notwendig, die über unsere Endlager wachen müssen, bis die Hälfte ihrer
tödlichen Strahlung abgeklungen ist. 20.000 Generationen? Es sind gerade 5000 Jahre vergangen, seit die uns bekannte menschliche Kultur existiert. Das sind gerade 200 Generationen. Woher nehmen
wir das Recht, von 20.000 künftigen Generationen zu verlangen, dass sie unseren radioaktiven Müll hüten, den wir in den letzten 50 Jahren, das heißt binnen zwei Generationen erzeugt haben? Der
Preis, den wir langfristig dafür zahlen und zahlen werden, übersteigt deren kurzfristigen Nutzen. Dass wir sie heute auch nicht wirklich benötigen, zeigt der jüngst beschlossene deutsche
Atomausstieg: Wir sind imstande, innerhalb von 10 Jahren ganz auf diese gefährlichste Form der Energiegewinnung verzichten zu können.
Es ist eine Mär, dass unser Wohlergehen vom wirtschaftlichen Wachstum abhängt. Heute geht es um das Zurückfahren unserer maßlos gewordenen materiellen Bedürfnisse. Die Erde, das Ökosystem, die
Zunahme der Weltbevölkerung zwingt uns, innezuhalten und bescheidener zu werden. Seit der industriellen Revolution vor 200 Jahren ist die Weltbevölkerung von einer auf 7 Milliarden Menschen
gewachsen. Wenn wir mit einem Energieverbrauch von 1.300 Watt pro Person zufrieden sein können, wozu mehr beanspruchen?
Dies ist eigentlich eine ganz einfache, rationale Überlegung. Wieso schaffen wir es nicht, sie real umzusetzen? Weshalb steuern wir sehenden Auges der Katastrophe zu?
Sucht
Dies liegt daran, dass wir der materiellen Sucht anheimgefallen sind. Wir leben in einer süchtigen Gesellschaft. Sucht oder Abhängigkeit wird medizinisch durch folgende Merkmale definiert:
Der Süchtige verspürt
Wir kennen heute sowohl substanzgebundene Süchte wie Alkohol- und Drogensucht als auch nicht substanzgebundene suchtartige Verhaltensweisen wie Spielsucht, Sexsucht, Arbeitssucht, Kaufsucht,
Esssucht, Internetsucht, Sportsucht. Es können alle Erlebnisse, die uns ein angenehmes Gefühl bringen, zur Sucht werden. Suchtartiges Verhalten ist meistens ein Zeichen für ein inneres
Unerfüllt-Sein. Süchte bieten im Grund nur Ersatzbefriedigung – sie stillen nicht wirklich unseren inneren Hunger: unser Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Anerkennung, unser Bedürfnis nach Sinn. Und
da sie nur Ersatz sind, können sie uns nie sättigen: Sie lassen uns unbefriedigt und leer zurück, und sie verlangen nach immer mehr.
Die meisten der oben genannten Süchte werden heute als krankhaft angesehen und behandelt. Nur das grenzenlose wirtschaftliche Wachstum wird immer noch als leuchtendes Ziel für die ganze Welt
angesehen. Als Ideologie breitet es sich wie eine Epidemie aus. Sie hat Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien längst erfasst – Länder mit Milliarden zukünftiger Konsumenten und
Produzenten. Immer mehr Menschen und Völker fallen somit der ökonomischen Sucht anheim. Selbst drei Crashs innerhalb eines Jahrzehnts – wir stecken im Moment gerade in einem – können diesen Wahn
nach Mehr nicht stoppen.
Dies ist zutiefst beunruhigend. Das macht Angst – damit kommen wir an den Anfang unseres Themas.
Wie können wir unsere Angst überwinden?
Jedes Leid hat ein Ende – wenn es genügend betrauert ist, müssen wir aufstehen und weitergehen.
Vor einem halben Jahr habe ich, nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima, eine innere Reise gemacht. Ich bin in einem Seminar, in dem es um die Heilung von Traumata ging, meinen inneren Bildern
gefolgt, die die Atomkatastrophe in mir hervorbrachten. Diese Bilder haben mir gezeigt, dass wir einer Katastrophe zusteuern, die nicht nur durch die Atomkraft, sondern durch unsere gesamte
Lebensweise verursacht wird. Ich glaube, die Katastrophe lässt sich nicht mehr aufhalten. Jedes Mal, wenn ich hinspüre, sehe ich den Untergang der Menschheit. Einen Trost habe ich: dass
sich die Natur erholen wird. Auch ohne Menschen.
Wenn ich diesem inneren Weg folge, vergeht meine Angst. Sie weicht einer Wehmut. Sie gibt Raum für mehr Gelassenheit. Ich kann sehen, wie schön die Welt ist. Ich schöpfe Kraft aus der Meditation
und der Begegnung mit Menschen, mit denen ich an einer besseren Welt arbeiten kann.
Auf der Webseite „Ökosystem-Erde.de“ fand ich folgendes Zitat:
„Was macht Menschen wirklich glücklich? Der materielle Reichtum durch die industrielle Revolution hat die Menschen nicht glücklicher gemacht. Heute wissen wir: zum Glück trägt die Herstellung von
Gütern nur bei, solange sie der Grundversorgung dienen. Ist diese gesichert, werden andere Bedürfnisse wie gute soziale Beziehungen wichtiger - die aber durch das Wirtschaftswachstum
gefährdet werden. Das Ende des Wirtschaftswachstums kann also eine Chance sein, glücklicher zu werden.“
Abraham Maslow, einer der Begründer der Humanistischen Psychologie, hat bereits in den 1950er Jahren gesagt: Menschliche Bedürfnisse bauen sich pyramidenhaft auf: Zuunterst sind die materiellen
Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen. Fast genauso wichtig sind die sozialen Bedürfnisse – nach Liebe, Akzeptanz, Geborgenheit. Zuoberst kommen die höheren menschlichen Bedürfnisse: Nach
Schönheit, Kreativität, Spiritualität und Lebenssinn.
Wir erleben heute, wie diese Bedürfnishierarchie umgedreht wird: Diejenigen, die am reichsten sind, sind keineswegs glücklich. Sie haben Angst, sind einsam, sie brennen aus – Panikattacken,
Depression und Burnout gehören zu den häufigsten psychischen Störungen in der westlichen Welt. Wir leiden, wie man sagt, „auf hohem Niveau“. Paradoxerweise fällt es Menschen in Afrika leichter,
glücklich zu sein, obwohl sie nicht viel, manchmal nichts haben. Dies sollte uns zum Denken geben.
Wir können daher nicht von Angst sprechen, ohne über das Glück nachzusinnen.
Diesen Vortrag möchte ich mit einem Wort aus dem Neuen Testament beenden: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2
Timotheus 1, Vers 4)
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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